Eine Revolution von unten

■ Bei den Wahlen ging es nicht nur um den Friedensprozeß. Es ging auch um demokratische Normen und den Charakter Israels als liberaler, humanistischer und säkularer Staat

So einen Freudenausbruch hat Israel seit Jahrzehnten nicht gesehen. Minuten nachdem im Fernsehen die ersten Hochschätzungen der Wahlergebnisse gesendet wurden, strömten die Leute in Tel Aviv zum Rabinplatz, um ihre unbändige Freude mit anderen zu teilen. „Vor drei Jahren hat man uns unseren Staat gestohlen. Jetzt haben wir ihn zurückgenommen!“ sagte ein weißhaariger Mann und drückte damit aus, was Millionen fühlten.

Nicht nur die Chancen auf Frieden haben zugenommen. Es ging bei diesen Wahlen um viel mehr: um die demokratischen Normen, um die Herrschaft des Gesetzes. Dieser Abend war Rabins Rache. Drei Jahre lang hat Benjamin Netanjahu Haß gesät, gegen die Eliten gehetzt, Rabin und die Linken als Verräter beschimpft und Rabins Lebenswerk, die Friedensabkommen, zertrümmert. Es sah so aus, als wäre das alte, humanistisch-säkulare Israel für immer erledigt, als hätte ein anderes, rechtsradikal-orthodox-fundamentalistisches Israel es für immer verdrängt. Dieser Alptraum ist nun gewichen.

Es ist bei weitem mehr als ein Wahlsieg, mehr als eine Wende. Es ist eine Revolution von unten. Die beiden Parteien der Siedler aus dem Westjordanland sind auf die Hälfte geschrumpft, die Partei der Golan-Siedler hat die Sperrklausel (1,25 %) nicht übersprungen. Die orthodoxen Parteien haben sich zwar verbessert, aber sie haben ihre Erpressungsmöglichkeiten verloren. Zum ersten Mal hat sich eine militante antireligiöse Front gegen sie gebildet, die ebenso viele Stimmen hat.

Wie steht es nun um den Frieden? Die Friedenslieder auf dem Rabinplatz haben auch Ehud Barak gezeigt, daß seine Wähler den Frieden wollen. Er wird den Friedensprozeß wiederaufnehmen, an der Stelle, wo die drei schicksalsvollen Schüsse auf den ehemaligen Ministerpräsidenten ihn abgebrochen haben. „Rabin, wir werden auf deinem Weg weitergehen!“ lautete eine Parole.

Wird Barak das auch tun? In seiner Siegesrede versprach er es. Sein Programm schließt einen Palästinastaat nicht aus, und das ist schon ein sehr großer Schritt vorwärts. Er will sich aber nicht auf die Grenzen vor 1967 (die „grüne Linie“) zurückziehen, sondern gewisse Gebiete, auf denen israelische Siedlungen entstanden sind, annektieren. Es handelt sich um zirka 15 Prozent der besetzten Gebiete, und das wird den Weg zum Frieden sehr erschweren.

In Jerusalem ist Barak zu keinem Kompromiß bereit, auch er wiederholt endlos die Mantra „ganz Jerusalem, unsere ungeteilte, ewige Hauptstadt, unter alleiniger israelischer Herrschaft“. Das wäre ein gewaltiges Hindernis auf dem Weg zum Frieden. Aber auch Rabin war am Anfang seiner Amtsperiode weit davon entfernt, das zu akzeptieren, was dann in Oslo vereinbart wurde. Was feststeht, ist, daß in Israel eine große Mehrheit den Frieden will und von der neuen Regierung eine klare Friedenspolitik erwartet.

Die Friedensbewegung in Israel hat jetzt eine noch wichtigere Aufgabe als vorher. Teile der Bewegung werden sicher wie bei Rabins Amtsbeginn sagen, daß man sich auf den Regierungschef verlassen muß und ihm nicht durch Kritik in den Rücken fallen soll. Der militante Flügel, zu dem auch Gusch Schalom und ich gehören, wird sich im Gegenteil sagen, daß man gerade jetzt die Bemühungen verstärken muß, um Barak so schnell wie möglich zu einer Friedenslösung zu bringen, die auch die Palästinenser akzeptieren können. Also Rückzug auf die grüne Linie, mit Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt der Staaten Israel und Palästina. Dazu braucht sie die Unterstützung aller Friedenskräfte aus der Welt.

Aber nicht nur die Friedenschancen haben sich verbessert. Es ging bei diesen Wahlen um viel mehr: um die demokratischen Normen, um die Herrschaft des Gesetzes und die Unabhängigkeit der Gerichte, um den Charakter Isarels als moderner, liberaler, humanistischer, säkularer Staat. Alles das ist unter Netanjahu verhunzt worden. Seine Lügen waren so allgemein bekannt, daß auch seine engsten Mitarbeiter ihm kein Wort mehr glauben. Politisch war er ein rechtsradikaler Wolf im pragmatischen Schafpelz. Daher das allgemeine Gefühl, daß Israel sich befreit hat.

Nach der Schlacht von El Alamein hat Winston Churchill gesagt: „Das ist nicht das Ende, das ist noch nicht einmal der Anfang des Endes, aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.“ Ich glaube, daß man das auch über diesen unglaublichen Wahlsieg sagen kann. Der lange Marsch zum Frieden, seit drei Jahren gestoppt, geht wieder vorwärts. Uri Avnery

„Vor drei Jahren hat man uns unseren Staat gestohlen. Jetzt haben wir ihn zurückgenommen!“