Musterbeispiel für galoppierenden Pan-Germanismus

■ „Der lange Abschied vom Sowjetreich“ – Ein Arte-Themenabend über Georgien

Im Jahre 1986 wurde einer der außergewöhnlichsten Filme der Kinogeschichte gedreht. Sein Regisseur kam aus der Sowjetrepublik Georgien und hieß Tengis Abuladse. „Die Reue“ erzählt von der Herrschaft des Dorfältesten Warlaam, dessen Leiche nach dem Begräbnis heimlich von einer Frau ausgegraben wird. Man faßt die „Leichenschänderin“ und stellt sie vor Gericht. Ihr „Geständnis“ ist der Rückblick auf die Geschichte einer totalen Diktatur. Warlaam, „Vater des Volkes“, ließ zu seiner Zeit die alten Kirchen sprengen, tötete seine Gegner, verführte die Künstler und liquidierte alle Menschen mit dem Namen Darbaiseli. „Die Reue“ ist der bedeutendste Beitrag eines disparaten Arte-Themenabends über Georgien. Der Diktator Stalin wurde bekanntlich hier geboren – das prägt bis heute die Sichtweise auf das kleine, schöne und herbe Land. Der Fakt steht in der Geschichte wie ein Opferstock, dem die Erklärer dieser Welt ihren Obolus zu entrichten haben.

Über Georgien zu sagen gäbe es indes weit mehr. Elke Windisch sucht in ihrem Essay „Fest der Herzen“ über die Christen und Muslime in Georgien einen religionspolitischen Rahmen; Lutz Rentner und Frank O. Sperlich unternehmen in „Das geschenkte Paradies“ einfach eine Reise.

Wirklich stutzen muß man über einen Beitrag, den Wolfgang Wegener für den MDR drehte. „Ferne Nachbarn“ ist das Musterbeispiel eines galoppierenden Pan-Germanismus. Die vor allem mit der wirtschaftlichen Lage Georgiens befaßte Dokumentation führt den Untertitel „Georgien & Europa“, die Rede indes ist vornehmlich von Deutschland.

Deutschland ist also Europa? Verblüffend. Wegeners Film über „Georgien & Europa“ setzt mit den Nachkommen der deutschen Siedler ein, die in „Armut und Verzweiflung“ leben. Andere Bewohner Georgiens tun dies nicht? Und leben sie dort den ganzen Tag über, vierundzwanzig Stunden lang, in „Armut und Verzweiflung“? Fast mag man nicht weiter zusehen, tut es aber doch.

Die übliche Verfallskulisse aus rostigen Rohren und defekten Kabeln, die auch sonst zur Bebilderung des Abwirtschaftens unter sozialistischer Herrschaft genutzt wird, nutzt Wegener weitgehend als Folie, vor der ein Jahrhundert deutscher Tüchtigkeit aufgefahren wird. Siemens war schon vor 1917 da. Toll! Dann kamen die Oktoberrevolution und danach Väterchen Stalin, und der zerstörte alles, die deutschen Siedler gleich mit. Wie bitte: Die Georgier selbst verschonte er wohl?

Man kann nicht umhin sich zu fragen, was es bedeuten soll, wenn heutzutage jede dritte Dokumentation über ein fremdes Land mit „die deutschstämmigen Bewohner ...“ beginnt. Tief durchatmen. Jetzt rackert sich in Georgien die deutsche GTZ-Entwicklungshilfe ab, und Mittelständler aus Sachsen bauen auf. Tatsächlich richten sich die Hoffnungen der Georgier auf das westliche Ausland. Siebzig Prozent der Georgier sind arbeitslos. Doch es sind nie die Fakten selbst, es ist immer ihre Ordnung und Gestaltung unter einem bestimmten Blickwinkel, die das Ergebnis einer medialen Vermittlung bestimmen. Wegener besucht auch die letzte lebende Deutsche von Assureti. Die achtzigjährige Irma Dierks hat nur noch „die Katze, die Bibel und ein Leben voll Leid“.

„Fremde Nachbarn“ steht in peinlichstem Sinn für germanozentristische Arroganz. Maschinen rattern, „wahrscheinlich nur, weil wir filmen“. Wer sich Abuladses „Die Reue“ ansieht, erfährt anderes, sogar fast alles über Georgien. Anke Westphal ‚/B‘Arte-Themenabend Georgien: „Das geschenkte Paradies“, 20.45 Uhr; „Fest der Herzen“, 21.20 Uhr; „Ferne Nachbarn“, 21.50 Uhr, „Der Diktator aus Holz“, 22.35 Uhr, „Die Reue“, 23.05 Uhr