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Der Tiger im Trecker

■  Kein Ersatz für Integrationspolitik, aber Fest mit Symbolcharakter, das Mut machen soll: An diesem Wochenende zieht zum vierten Mal der Karneval der Kulturen durch die Kreuzberger Straßen

ür viele Paradenfreaks ist der Karneval der Kulturen die Lieblingsparade der Berliner Pop- und Politikumzüge. Das liegt daran, daß hier alle ganz unakademisch und praktisch loslegen können, frei nach dem Motto „Ich miete mir einen Umzugswagen und nehme mit ...“ Oder, wie es die Werkstatt der Kulturen, die Organisatorin dieses Umzuges, ausdrückt, „weil der Karneval der Kulturen in Berlin ein Fest aller Generationen und sozialen Gruppen ist, offen für neue Trends und Stilrichtungen der Jugend- und Minderheitenkultur“.

So wuchs der 1996 erstmals veranstaltete Karneval stetig und versammelt in diesem Jahr rund 4.000 Akteure, bestehend aus 120 Gruppen aus mehr als 70 Nationen. Die Veranstalter rechnen in diesem Jahr mit 300.000 Besuchern. Wegen des Andrangs wurden der am Pfingstsonntag stattfindende Umzug und das Straßenfest vom ehemaligen Kreuzberg 36 nach 61 verlegt.

Eröffnet wird der Umzug wie schon in den beiden Jahren davor von der Gruppe Afoxe Loni mit brasilianischen Karnevalsriten. Die aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzte Gruppe von Tänzern, Trommlern und Sängern übt an einer Berliner Percussionschule unter Leitung des Brasilianers Dudu Tucci. Ihre musikalische Vorstellung umfaßt auch das afrobrasilianische Candomble Ritual, eine von Trommeln und Tanz begleitete spirituelle Reinigung.

Die im Zuge der Multikultidebatte aufgeworfene Frage, ob solche Exotismen nicht bloß ein weiterer Beitrag zum kurzfristigen Bestaunen fremdartiger Unterschiede ist und damit eine echte Auseinandersetzung verhindert, hat derweil das offene Karnevalskonzept selbst beantwortet.

Anett Szabó, neben Brigitte Walz eine der zwei Hauptorganisatorinnen des Karnevals, erläutert: „Die Gruppen wollen die kulturelle Vielfalt repräsentieren. Das reicht von traditionell bis supermodern. Wir haben erstmals auch einen Punkwagen dabei, bei dem zehn Punkbands aus Kreuzberg Flagge zeigen wollen, weil sie sagen: Wenn es Karneval der Kulturen heißt, dann heißt das ja wohl nicht nur ethnische Kulturen. Und das ist natürlich richtig.“

Die Tatsache, daß die Türken als größte fremdstämmige Volksgruppe im letztjährigen Karneval kaum präsent waren, läßt die türkische Community derweil nicht auf sich sitzen. Szabó: „Es sind in diesem Jahr verschiedene türkische oder türkisch-deutsche Gruppen dabei. Eine Gruppe von Türken und Kurden führt Hochzeitsfolklore auf, es gibt eine türkische Popband. Viele Türken sagen aber auch: ,Sollen wir uns jetzt ein T auf die Stirn malen? Wir sind doch auch Berliner, warum fragt ihr uns dauernd, ob wir Türken sind?‘ So gibt es vor allem viele junge Türken in gemischten Gruppen, die elektronische Musik oder HipHop machen.“

Das Beispiel der karnevalserfahrenen Brasilianer hat hingegen viele Leute dazu bewogen, ähnliches zu versuchen, um vor allem die eigenen Vorlieben zu repräsentieren: Von reggaebegeisterten Schulgruppen über multikulturelle Begegnungsstätten aus Friedrichshain bis zur jamaicahörigen „Ostberliner Subkulturszene um Sänger I.M. Uncool“ sind hier die unterschiedlichsten Szenen vertreten.

Aber nicht nur bunt und karnevalistisch soll es zugehen: Die Drogenberater von A Joint Venture („Globalisierung für alle“) haben sich dem Karneval genauso angeschlossen wie eine Hamburger Frauengruppe, die auf das Schicksal des afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu Jamal aufmerksam machen will. Die Jusos haben sich derweil eine Art Parabel ausgedacht: „KulTIGER: Eine Synthese aus Kultur und Tiger bringt den Mulitkulti-Gedanken zum Ausdruck.“ Eher obskur dagegen ist das Anliegen des in Berlin lebenden und aus Kiel stammenden Kai Bornhöff. Der baute einen Treckeranhänger zum Kutter um, als trashige Reminiszenz an norddeutsches Butterfahrtenglück sozusagen: Schließlich seien mit den Billigdampfern „Kulturen und Grenzen überschritten“ worden. Dazu wird es Musik geben, „die regional gestimmt ist, die norddeutsche Welle sozusagen“.

Anett Szabó ist indes immer wieder erstaunt über die Zeit, das Geld und die Energie, die die „Karnevalisten“ in ihre Projekte investieren. „Der Karneval kann keine Integrationspolitik ersetzen. Aber er ist ein Fest mit Symbolcharakter, das sehr viel Mut macht. Man geht hinterher anders durch die Stadt. Das ist auch wichtig für die Teilnehmer, die das alles nicht nur just for fun machen, sondern auch Botschaften vermitteln wollen“. Nils Michaelis

Programm auf Seite 31

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