Chinas Kampf um diplomatische Rituale

Die Chinesen verharren weiter im Unverständnis über die Bombardierung ihrer Belgrader Botschaft. Hardliner fordern neue Atomversuche, doch auch die Hilflosigkeit läßt sich nicht verbergen   ■  Aus Peking Georg Blume

Wie sehr diplomatische Rituale eine Gesellschaft zivilisieren und wie schnell ohne sie ein Zustand der Verrohung eintritt, hat die amerikanische Ethnologin Ruth Benedict am Beispiel Japans während des Zweiten Weltkrieg dargestellt. In China ist das diplomatische Ritual – man denke nur an den Kotau vor dem Kaiser – besonders in der Politik beherrschend und keineswegs auf die Außenpolitik beschränkt.

Das mag verstehen helfen, weshalb die Nato-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad für viele Chinesen immer noch unerklärlich ist. Sie wurde nicht zuletzt aufgrund der in ihrer symbolischen Stärke als unzureichend empfundenen Entschuldigung aus Washington als gravierender Verstoß gegen das diplomatische Ritual empfunden. Das führt nun zu einer Verrohung der chinesischen Politik und ihrer Sprache, die im Westen auf ebensoviel Unverständnis treffen wird wie die japanischen Kamikaze-Flieger im Zweiten Weltkrieg.

Gestern untersagte Peking US-Kriegsschiffen den Zugang zum Hafen der südchinesischen Sonderzone Hongkong. Dort durften sie bisher auch nach der Rückgabe der früheren britischen Kolonie an China weiter in großer Zahl Station machen. Nicht bestätigte Berichte sprachen zuvor von einer kleinen chinesischen Kriegsflotte, die zu den von China und Japan beanspruchten Senkaku-Inseln (chinesisch: Diaoyutai) im Chinesischen Meer ausgelaufen war, um militärische Präsenz gegenüber dem Bündnis zwischen Tokio und Washington zu zeigen.

Hardliner in der Pekinger Führung forderten in den vergangenen Tagen außerdem die Wiederaufnahme von Atombombenversuchen in der Wüste Gobi und neue Raketentests entlang der Küste vor Taiwan. All diese Reaktionen auf das Botschaftsbombardement mögen im Westen als irrational erscheinen, da sie auf den ersten Blick keine logische Beziehung zum Balkankrieg erkennen lassen.

Noch weiter greift die politische Sprache der Parteipropaganda: „Das von den USA geführte Nato-Bündnis, das unsere Botschaft bombardiert hat, hat die Welt erschüttert“, beginnt die gestrige Lagebeschreibung des Parteiorgans Volkszeitung. So wird aus dem Botschaftsunglück, vor dem die chinesische Balkanbeobachtung nie wirklich engagiert war, unversehens ein Weltkonflikt. Doch es wäre verfehlt, solche Überzeichnungen allein einem kalkulierten Manipulationsversuch der Staatsmedien zuzuordnen. Vielmehr kommt in ihnen auch eine Hilflosigkeit zum Ausdruck: Da die chinesische Betroffenheit in keinem Verhältnis zu der Gestenlosigkeit des Westens steht, wird sie in der Dramatisierung der Ereignisse kompensiert.

Die Chinesen warten nun auf die seit vierzehn Tagen ausstehende sachliche Erklärung des Vorfalls von seiten der Nato. Wenn es dann aber soweit ist und Militärexperten erklären, welcher Computer wo und wann aussetzte, wird es nicht nur am Vertrauen in die Nato, sondern auch an einem Verständnis technischer Erklärungen für ein emotionales Ereignis fehlen. Denn es ist vor allem die Rationalität, die die Chinesen verprellt, mit der der Westen ein diplomatisches Verbrechen zu beseitigen sucht.

Doch wahrscheinlich werden wirtschaftliche Interessen den Unmut allmählich verdrängen. Parteichef Jiang Zemin erklärte schon vor Tagen die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zum „einzigen Weg, den Hegemonismus der USA und der Nato“ zu schlagen.

Ein Einlenken Chinas im Weltsicherheitsrat bleibt deshalb denkbar. Doch könnte der führende Reformpolitiker des Landes, Premierminister Zhu Rongji, zum Opfer der Krise werden. Zhu hatte kurz vor der Botschaftsbombardierung weitgehende Handelzugeständnisse gegenüber den USA gemacht, um Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation zu ermöglichen. Wenn Washington jetzt nicht einlenkt, um seine Beziehungen zu Peking zu restaurieren, könnte Zhu von der Partei zum Schuldigen erklärt werden.