Grauen und Lachen im Wende-Shirt

■ Die Scheu vor ernsthaften Emotionen: Jan Bosse inszenierte „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ bei den Wiener Festwochen. Per Nachwuchswettbewerb entdeckt, stößt Jan Bosse inzwischen auf vielfaches Interesse

Trifft ein Massenmörder einen Mörderjäger. Sagt der eine: „Ihnen blüht da was auf der Nase.“ Sagt der andere: „Ach wirklich? Danke.“ – und schüttelt ihm erfreut die Hand. „Utterson, mein Name.“ – „Edward Hyde.“ Szene einer Aufführung von Jan Bosses Beitrag zu den Wiener Festwochen. „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ stand auf dem Programmheft zu lesen. Darunter: „Nach R. L. Stevenson“.

Doch der Reihe nach: Begonnen hatte alles im vergangenen Jahr. Erstmals zeichnete das Intendanten-Trio Luc Bondy (Schauspiel), Klaus-Peter Kehr (Musiktheater) und Hortensia Völckers (Tanz) für die Konzeption der Festwochen verantwortlich. Luc Bondy rief, zur Förderung des Theaternachwuchses, einen Regiewettbewerb ins Leben.

Ein Jahr lang hatte die Dramaturgin Veronica Kaup-Hasler Inszenierungen junger, weitgehend unbekannter Regisseurinnen und Regisseure besichtigt und lud schließlich sechs von ihnen ein, sich mit einer maximal einstündigen Arbeit im Wettbewerb zu präsentieren. Eine prominent besetzte Jury sollte den Gewinner ermitteln, dem als Lohn eine abendfüllende Inszenierung im Rahmen der diesjährigen Festwochen in Aussicht gestellt wurde. Gewinner gab es dann sogar zwei: Jan Bosse und Ute Rauwald, deren feingliedrige „Häßliche Töchter, Inc.“ nach einem Grundmotiv aus Lorcas „Bernarda Albas Haus“ mittlerweile auch an der Berliner Baracke zu sehen war. Beide präsentieren sich nun mit größeren Inszenierungen. (Ute Rauwalds „Killed by P.“, basierend auf Kleists „Penthesilea“, wird im Juni folgen).

Im vergangenen Jahr hatte der 28jährige Jan Bosse die Jury mit seiner Inszenierung von „Psychopathen“ überzeugt, einem Text, den Marius von Mayenburg eigens für diesen Anlaß geschrieben hatte. Im November dann brachte Bosse an den Münchner Kammerspielen Mayenburgs „Feuergesicht“ zur Uraufführung. Eine Inszenierung von Marguerite Duras' „Krankheit Tod“ am Frankfurter Schauspielhaus folgte, und mittlerweile soll Tom Stromberg, künftiger Intendant des Hamburger Schauspielhauses, lebhaftes Interesse an Jan Bosse gezeigt haben. Bosses nähere Regiezukunft scheint also gesichert. Und das verwundert kaum. Sein Regiestil liegt im Trend, und trendig, was immer das heißen mag, ist gegenwärtig schick. Das war im vergangenen Jahr in Wien zu beobachten, später in München und nun erneut in Wien.

Stevensons Erzählung von der Spaltung des Arztes Dr. Jekyll in ein ehrbares Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft und sein lasterhaftes, gewissenloses Alter ego namens Hyde war Ausgangspunkt für Bosses Arbeit. Robert Woelfl schrieb ihm eine Neufassung des Stoffes. Utterson, bei Stevenson Inbegriff der tugendsamen bürgerlichen Gesellschaft, Freund und Anwalt Jekylls, mutiert darin zum pistolenbewährten Cop, der den weiblichen Leichen selbst mal gern mit der Zange zu Leibe rückt, um ihnen die rotlackierten Fingernägel aus der leblosen Hand zu zupfen. Dritte im Bunde – und ohne Vorbild in der Stevensonschen Vorlage – ist Ivy, das weibliche Objekt der tödlichen Leidenschaft („Each man kills the thing he loves“, singt sie irgendwann vieldeutig ins Mikro).

Jekyll trägt ein weißes T-Shirt, auf welchem „Dr. Jekyll“ steht. Später zieht er es aus, dreht es um, so daß „Mr. Hyde“ zu lesen ist. Dann ist der Abend fast zu Ende, und er geht ab, „Wer gehen will, kann gehen“, den Werbeslogan der diesjährigen Festwochen im Mund. Zu diesem Zeitpunkt ist der Abend seit längerem endgültig auseinandergefallen, und auch die beiden anderen Schauspieler haben die Lust verloren und gehen ab.

Das klingt nach Castorf, während zuvor Matthias Hartmann und Leander Haußmann Pate standen, deren Ästhetik Bosse deutlich nähersteht. Wie sie beherrscht er das Handwerk, den Umgang mit Raum und Licht (Stéphane Laimé schuf ihm ein ebenso schlichtes wie hervorragend bespielbares Bühnenbild). Wie sie scheut er zurück vor jeder ernsthaften Emotion, reduziert Figuren auf Karikaturen, deren psychologische Untiefe die Tradition des deutschen Fernseh-Sketchups (Diether Krebs, Iris Berben, Didi Hallervorden) ungebrochen reproduziert.

Es darf gelacht werden, wenn Jekyll (Martin Engler) und Utterson (Bjarne I. Mädel), die Wäscheklammer auf der Nase, in den schlammigen Eingeweiden diverser Leichen wühlen. Wenn Jekyll kotzt und stottert und zum wiederholten Mal der dümmlichen Ivy (Linda Olsansky) zu Leibe rückt. Es darf gegruselt werden, wenn er Utterson mit der Schere im Gesicht bearbeitet, bis das Blut spritzt, und ihm anschließend den Kopf gegen den Boden donnert. Doch nur ein kleines bißchen, denn alles ist so ernst auch wieder nicht.

Wie ernst es Bosse mit dem Theater ist, wird die Zukunft weisen. Was er damit will, verraten seine bisherigen Arbeiten zumindest nicht. Wie hieß es während der Aufführung einmal: „Laß uns weinen.“ Ja, aber dann aus vollem Herzen. Cornelia Niedermeier