Schlagloch

Vom Frösteln ins Frieren  ■ Von Nadja Klinger

„Früher dachten wir, Wissen sei wichtig, nicht Glauben. Jetzt ist es umgekehrt. Statt um rechts oder links geht es heute um kalt oder warm.“ Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Mai 1999 „Es gibt im Osten noch immer den Hang zu einfachen Antworten.“ Richard Schröder, Theologe, Mai 1999

Das Folgende basiert auf einer billigen Nummer: auf der Ziffer, die benennt, wie viele Menschen im Osten Deutschlands gegen den Nato-Einsatz in Jugoslawien sind. Es ist eine Prozentzahl knapp unter 70, und eigentlich gäbe es an ihr nichts zu rütteln. Wäre sie nicht viel höher als die im Westen.

Also wird gerüttelt, um die Erklärungen herauszuschütteln, die in der Zahl drin zu stecken scheinen. „Im Osten Deutschlands lebte man bis zuletzt näher am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen als im Westen“, erklärt der Kultursoziologe Wolfgang Engler. Der Theologe Richard Schröder meint, der Kontrast innerhalb Deutschlands gehe auf die unterschiedlichen Interpretationen des Zweiten Weltkrieges zurück.

Während im Bewußtsein der Ostler Hitler den Krieg vom Zaun gebrochen und die Sowjetunion ihn besiegt habe, wüßten die Westler, daß England und Frankreich Deutschland den Krieg erklärten, weil sie begriffen hatten, daß Verhandlungen mit Hitler sinnlos waren. „Während im Westen die innenpolitische Frage, warum die Weimarer Demokratie scheiterte, gründlich diskutiert worden ist“, fügte Schröder hinzu, „gibt es im Osten immer noch den Hang zu einfachen Antworten.“

Und während eine ostdeutsche Journalistin ihren Landsleuten ein gesundes Mißtrauen und die geschichtliche Erfahrung bescheinigte, „daß die Praxis ganz selten die Neigung zeigt, sich theoriegemäß zu verhalten“, einigten sich eben jene Landsleute in einer Fernsehtalkshow darauf, immer noch „irgendwie“ gegen das, was die Bundesrepublik tut, zu sein. Sie stünden „ganz einfach“ den slawischen Völkern näher, könnten die USA und die Nato indes „irgendwie“ nicht leiden. Letzlich faßte Friedrich Schorlemmer simpel zusammen: „Die allermeisten Ostdeutschen wollen nichts als den Frieden.“ Ganz einfach. Weil Frieden sich gut anfühlt. Frank Castorf würde sagen: warm.

Was ist der Zahl noch zu entnehmen? Seit Wochen habe ich fast 70 Prozent meiner privaten Telefonate und Zusammenkünfte mit Kriegsgegnern. Ich arbeite zu drei Vierteln mit ihnen, Kriegsgegner machen mich nachts in der Kneipe besoffen, wir spielen Volleyball , fahren zusammen in den Urlaub. Der Satz, der in der letzten Zeit am häufigsten meinen Alltag unterbricht, ist eine Frage. Sie kommt so unvermittelt daher, daß ich nie weiß, was ich sagen soll. „Du bist doch nicht für diesen Krieg?“ Glücklicherweise hält sich die Frage jedoch nicht lange in unseren vergleichsweise belanglosen Gesprächen auf. Weil sie gar nicht mit einer Antwort rechnet.

All die ostdeutschen Kriegsgegner in meinem täglichen Leben finde ich hier und da in den genannten Erklärungen wieder, wie ich auch mich selbst erkenne: Ich erkenne die DDR. So war es damals. Aber wie es einmal war, das ist heute nicht das Problem.

Kein Kriegsgegner in meinem Umfeld begründet mir seine Haltung auch nur annähernd so wie oben. „Mit Krieg löst man keine Probleme“, heißt es lediglich.

Oder es werden Geschichten aus den Bombennächten im Zweiten Weltkrieg erzählt. Die meisten Gespräche über den Krieg, in die ich verwickelt bin, sind übervoll mit Feststellungen und angestrengt von Rhetorik. Da ist kein Platz für Erklärungen. Das Fazit ist immer der Ausgangspunkt. Zweifel machen keinen Sinn.

In einem Land, das sich seit Wochen an Bombardements beteiligt, fühlt sich der Kriegsgegner machtlos. Auch wenn die Ostdeutschen so zahlreich sind, daß sie sich aneinander wärmen könnten, klagen alle, die ich kenne, darüber, daß es sie fröstelt. Sie reden von „denen“, die da Krieg führen, von Propaganda und davon, daß „die uns“ für dumm verkaufen wollen. Es herrscht eine Entschlossenheit, die irgendwie bockig daherkommt, so daß sie den handlungsbereiten Kriegsgegnern den Zugang zu einer Idee versperrt, was sie eigentlich tun könnten.

Die wenigsten gehen auf Demonstrationen, zwei haben Geld gespendet, eine sammelt Kleider, kauft frische Unterwäsche und bringt sie ins Flüchtlingslager. Die meisten haben die Nachrichtensendungen längst aufgegeben. Dafür kennt fast jeder plötzlich einen Russen, der ihnen von der Vertreibung der Serben vor 20 Jahren aus dem Kosovo erzählt.

Und im Gesicht des Endlich-ist-Kohl-nicht-mehr-Kanzlers haben sie die fiesen Gesichtszüge des eisigen Kriegsprofiteurs entdeckt. Die Europawahl nutzen sie, um nicht hinzugehen, und wenn doch, dann, um fortan nie wieder Grün zu wählen. Und wer die PDS nicht ausstehen kann, sagt zumindest: „Wo sie recht hat, hat sie recht.“

Vier meiner Freunde und Bekannten können nicht sagen, was sie vom Kosovo-Krieg halten. Sie zweifeln an der militärischen Strategie, reden über Menschenrechte, fragen sich, was Europa bedeutet, und sagen immer wieder „aber“. Auf privaten Kriegsdiskussionen fühlen sie sich allein.

Denn das ostdeutsche Gegen-den-Krieg-Sein begegnet ihnen als Haltung. Als bewegungslos. Insofern, als daß es für Einwände, für Skepsis keinen Zentimeter zur Seite rückt. Schlimmer noch, der Krieg findet in den Gesprächen statt: dafür oder dagegen.

Der unbequeme Gedanke, wie man entscheiden würde, wäre man persönlich unter politischem Handlungsdruck, wird schnell in eine Frage gebettet, deren Antwort garantiert viel bequemer ausfällt: „Würdest du denn selber als Soldat dort runtergehen?“ – Natürlich nicht. – „Na siehst du, was man nicht selber tun würde, kann nicht richtig sein.“ Viele ostdeutsche Kriegsgegner ruhen starr auf ihrem Anderssein. So kommt man hier vom Frösteln langsam ins Frieren.

Eine Frau aus dem Westen hat mir vor Tagen erzählt, daß private Diskussionen über den Nato-Einsatz ihren Alltag in München nicht dominieren. Anscheinend wollte sie sich dafür entschuldigen. „Wir sind uns doch alle einig, daß wir für den Krieg sind. Mit den Grünen groß geworden, waren wir immer gegen das Establishment, und seit die regieren, sind wir dabei, uns endlich zu versöhnen. Ich bin so sehr bemüht, der Regierung zu glauben, denke nicht daran, daß Fischer oder Scharping lügen.“

Eine Westfrau soll nicht für den Vergleich mit über zwei Dutzend Ostlern herhalten. Sie ist ein Beispiel dafür, wie verständlich mir – im umgekehrten Fall – das Verharren auf politischen Positionen ist, in denen man sich sein Leben eingerichtet hat. Krieg hin oder her: „Er ist uns, nachdem er einmal begonnen hatte, erst dadurch wieder schmerzhaft ins Bewußtsein geraten, daß er droht die Grünen zu spalten“, sagte sie.

Frank Castorf meint, was damals rechts und links war, sei heute warm oder kalt. Er fordert Bodentruppen „oder den radikalen Ausstieg aus dem Krieg“. Das ist Kunst. Nur noch Rhetorik nach dem Ende der DDR. Um außerhalb des Theaters mit den Ereignissen mitzuhalten, müssen Ostler es sich leider schwerer machen.

Das ostdeutsche Gegen-den-Krieg hat etwas Bewegungloses

Es herrscht eine Trotzigkeit, die jede mögliche Tat verhindert