Blutige Blutleere

Das Schwergewicht Heiner Müller als Lehrlingsstück: „Anatomie Titus Fall of Rome“ bei den „Jungen Hunden“  ■ Von Kees Wartburg

Blut, Blut, Blut. Nirgends fließt soviel Blut in der dramatischen Weltliteratur wie bei Shakespeares Titus Andronicus. Köpfe, Hände und eine Zunge werden abgeschnitten, eine Mutter verspeist unfreiwillig ihre Söhne zum Abendbrot, ein Vater entleibt seine geschändete Tochter, und von zwanzig Söhnen des großen römischen Feldherren lebt am Ende noch einer; der wenigstens als König, aber das verspricht ja auch nur neues Gemetzel.

Titus ist kein Splatterfilm, aber bei der Jungen-Hunde-Inszenierung der Heiner-Müller-Fassung Anatomie Titus Fall of Rome hätte man sich gewünscht, die Regisseurin Nora Somaini wäre auf die Idee gekommen, einen daraus zu machen. Denn mit ihren jungen Schauspielern verhebt sie sich ganz gehörig an dem Versuch, die Lebensklugheit, mit der Shakespeare von sinnlos übersteigertem Ehrgefühl, dummer Kaltschnäuzigkeit und dem intriganten Kalkül eines Massenmörders erzählt, auch nur annähernd in eine Form zu bringen, die die Wahl dieses Stückes gerechtfertigt hätte. Warum hält niemand junge Regisseure davon ab, sich bei ihren ersten Arbeiten gleich in die Steilwand der größten Wortgebirge zu begeben, wo sie nur abstürzen können? Zum Beispiel, indem sie – wie hier geschehen – einfach Einar Schleefs skandierende Chöre kopieren, ein paar Bilder aus Mnouchkine-Inszenierungen zitieren, dann unvermittelt rumblödeln lassen und jungen Schauspielern, die kein echtes Leid spielen könne, in peinliches Gefühlsposing jagen? Bei jeder Szene spürt man das unglaubliche Bemühen und fühlt ein wenig Scham beim Hingucken-Müssen. Des Einarmigen Titus Satz „Lieber eine fehlende Hand als fehlende Scham“ kommt da wie ein Schlußgong. Selbst die Schauspielhaus-erprobte Özlem Soydan als rachedurstige Gotenkönigin Tamora erscheint in ihrem lila Stehkragenkostüm und ihrer flach-kecken Laszivität wie eine Einwechselung aus dem Treffen norddeutscher Gothic-Rock-Fans.

Das ist alles so schrecklich gut gemeint und so absichtlich kreativ und vor allem von dem genialischen Jugendwahnsinn genährt, Rollen und Stücke, die sich Regisseur und Schauspieler normalerweise im Zenit ihrer Reife zutrauen, einfach aus dem Füllhorn netter Ideen schütteln zu können. Die menschliche Dimension dieser Kunstwerke kann man ohne die nötige Portion Lebenserfahrung und Selbsterprobung aber einfach nicht erfassen und umsetzen, und so verschwindet das Stück mit jeder weiteren Annäherung in weiterer Ferne.

Die Hilflosigkeit, mit der die Ak-teure sich abrackern, um doch über das Gutgemeinte nicht hinauszukommen, die Zufälligkeit, mit der Bühne, Kostüme und Musik sich dazu sortieren, ergeben leider einfach nicht mehr als das Schulaula-Gefühl. Dabei scheint Nora Somaini trotzdem nicht untalentiert. Die reine Menge der Einfälle und die Konsequenz, mit der sie drei Stunden versucht, richtiges Schauspiel zu bieten, zeugen von Mut und Standing. Aber bei Titus Andronicus reicht das paradoxerweise nur für Blutleere.

noch heute, am Freitag und am Samstag jeweils um 19.30 Uhr auf Kampnagel