Die wilden Grünen

Draußen sprießt gerade alles besonders üppig, und die Lust auf einen Spaziergang treibt selbst die konsequentesten Sesselhocker hinaus. Wer mit solcher Fülle nichts anfangen kann, findet vielleicht daran Gefallen: Nahrungsbeschaffung umsonst und draußen; Wiesengrund statt Supermarkt. Brennessel, Löwenzahn und Bärlauch gilt es zu finden, Wildwuchs, gemeinhin als Unkraut verachtet. Doch Wegerich, Rauke und Gänseblume sind nicht nur reine Natur, sondern auch Geschmack pur. Das haben wir nur vergessen. Eine Sättigungsbeilage  ■ von Manfred Kriener und Eberhard Schäfer

Geschmack und Weisheit, verriet kürzlich ein Philosoph, haben die etymologisch gleiche Wurzel: sapere, schmecken, und sapiens, weise. Die Gabe des Geistes ist die Gabe der Differenzierung – mit Grips und Gaumen. Leider wird der Grips vor allem dazu genutzt, den Gaumen auszutricksen und den Geschmack zu frisieren. Udo Polmer und Hans-Ulrich Grimm haben in ihren Büchern „Vorsicht, Geschmack“ und „Die Suppe lügt“ über die Machenschaften der Aroma-Mafia berichtet. Erdbeeraroma aus Sägemehl, Apfelgeschmack aus Weinfuselöl, Raucharoma aus der Spraydose. Selbst Reaktionsaromen, also Geschmacksrichtungen von Küchendüften à la Bratkartoffel, Hähnchen oder Karamel, werden synthetisiert. Dazu gibt es Fleischersatz aus Klärschlamm, Meeresfrüchte aus Fischabfall und durch Tauchbäder künstlich aromatisierte Apfelsorten. Der Verbraucher ahnt nichts von alledem und vertraut dem Etikettenaufdruck „natürliches Aroma“. Aber Sägemehl und Weinfuselöl sind eben auch „natürlich“ und müssen auf dem Erdbeer- und Apfeljoghurt nicht eigens ausgewiesen werden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Die Aromaindustrie hat uns dressiert.

1950, vor einem halben Jahrhundert, stammten noch neunzig Prozent unserer Nahrung unmittelbar von Acker, Wald, Weide und Weinberg. Heute stammen neunzig Prozent aus der Veredelungsmaschine von Nestlé-Oetker-Knorr. Allerdings: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Köche gegen Gentechnik, Gourmets for nature, Biofood bei der Lufthansa. „Was wir brauchen“, sagt Claus-Peter Hutter, Präsident der Stiftung Europäisches Naturerbe, „ist ein neuer Bezug zu unseren Lebensmitteln, zur Vielfalt und Frische beim Essen und zu den Landschaften.“ Wer die Naturküche kennenlernen will, sollte sich jetzt im Frühsommer, jenseits von genußfeindlichem Körnerkult und Gesundheitsarien, einen halben Tag auf die bunte Wiese setzen und: Wildgemüse sammeln.