Großvater sprach nie vom Krieg

Besucher einer Ausstellung – der Wehrmachtsausstellung  ■ Von Karin Flothmann

Großvater sprach nie vom Krieg. Er erzählte lieber von klaren Gebirgsbächen in Schlesien, aus denen er früher trinken konnte, und von den Wäldern, durch die er als Jugendlicher streifte. Auf einem kleinen Foto, das ihn im Heimaturlaub neben der Großmutter zeigt, trägt er Uniform. Er sieht jung aus, obwohl er damals schon älter als 40 war. Von 1939 bis 1945 war mein Großvater Soldat – zuerst in Polen, dann im Rußlandfeldzug. Was er dort tat, weiß ich nicht. Wo er überall war, wissen auch seine Kinder nicht so genau. Er hat niemandem erzählt, wie es war, als er zum ersten Mal auf einen Menschen geschossen hat. Er hat nie erzählt, wieviele Menschen er getötet hat.

„Wenn Sie meine vier Kinder fragen würden, die haben von mir vom Krieg noch nie etwas gehört“, erzählt Herr O. freimütig. Warum er nicht darüber geredet hat? „Weil das so eine schlimme Sache gewesen ist.“ O. hat sich 1995 die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung in Stuttgart angesehen. Anschließend war er bereit, darüber zu reden. 131 solcher Gespräche führten SozialwissenschaftlerInnen im Auftrag des Hamburger Instituts für Sozialforschung: Entstanden ist daraus das Buch „Besucher einer Ausstellung“.

Seitdem sie vor gut vier Jahren erstmals in Hamburg gezeigt wurde, hat die Ausstellung „Vernichtungskrieg“ eines auf jeden Fall bewirkt: Mehr als 50 Jahre nach Kriegsende wird über den Krieg geredet. Bei manchen werden Erinnerungen wach, andere machen sich auf die Suche nach ihnen, und immer spielt die persönliche Nähe zu dem „Vernichtungskrieg“ eine Rolle. Als der Bundestag 1997 über die Ausstellung debattiert, sprechen Abgeordnete von SPD und Bündnisgrünen über die Rolle ihrer Brüder, Väter oder Großväter im Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung, meint Instituts-Vorstand Jan Philipp Reemtsma, wurde zu einer Art „Katalysator für Erinnerungen“.

Herr O. war 17, als der Rußlandfeldzug begann. Er glaubt, die Ausstellung diffamiere „eine Elf-Millionen-Armee in Bausch und Bogen“. Vor allem „die vielen Freunde, die gefallen sind“, sollen nicht „mit solchen Untaten“, „Scheußlichkeiten“ und „Unmenschlichkeiten“ entehrt werden. Immerhin hätten sie doch nur „im guten Glauben ihre Pflicht getan“. Nach dem Besuch bescheinigt O. der Ausstellung überraschend, sie habe auch etwas Gutes. „Man hat seither versucht, das alles zu verdrängen und zu verdecken“, sagt er, und meint mit „man“ wohl sich selbst. Dann fährt er fort: „Aber man muß mehr über die Dinge reden.“

Und O. erzählt: Im August 1943 erhält er als verantwortlicher Unteroffizier vom Dienst den Befehl, die gesamte männliche Bevölkerung eines Dorfes in der Nähe von Kiew für die Zwangsarbeit in Deutschland gefangenzunehmen. „Ich hab damals zum ersten Mal das Gefühl gehabt, das ist eine Sauerei, wenn man das notwendig hat, Menschen zu fangen“, sagt er. Rund 40 Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren werden auf seinen Befehl hin im Rathaus eingesperrt. Die Vorderseite des Gebäudes läßt er bewachen. Dann öffnet er mit einem Zweitschlüssel die Hintertür und sorgt dafür, daß die Gefangenen entkommen können. Konsequenzen hat das für ihn nicht.

Der Historiker Hannes Heer, Leiter der Ausstellung, kennt verschiedene Geschichten dieser Art. Die einen erzählen, wie sie einem Kriegsgefangenen zur Flucht verholfen haben, andere schmücken wortreich aus, wie sie an der Front den Befehl verweigert haben, angebliche Partisanen zu erschießen. „All diese Geschichten sind, obwohl sie präzise und flüssig erzählt werden, erfundene Geschichten“, ist Heer überzeugt. Denn die Befehlsverweigerung in einer militärisch bedrohlichen Situation hätte bei der Wehrmacht sofort zu scharfen disziplinarischen Konsequenzen geführt. Und 1943 wäre es „blanker Selbstmord gewesen“, 40 Gefangene zu befreien, obwohl man als Unteroffizier für ihre Gefangennahme verantwortlich war.

Menschenjagd oder die Ermordung von Zivilisten entsprachen zwar der Befehlslage, „verstießen zugleich aber entschieden gegen die international verabredeten Kriegskonventionen und gegen die Normen der Moral“, erklärt sich Heer die Motive der Lügen. „Spätestens nach 1945 dürfte das Gefühl der Scham oder Schuld zurückgekehrt sein.“

Herr O. schönt also seine Geschichte, er erzählt, wie er, aus heutiger Sicht, damals gern gehandelt hätte.

L. hat sich die Ausstellung „Vernichtungskrieg“ in Berlin angesehen und zwar besonders aufmerksam. Er gehört der Nachkriegsgeneration an und seine Erfahrungen sind typisch für all jene, deren Väter schweigsam aus dem Krieg heimkehrten. Zu Hause, so sagt L., wurde über den Krieg kaum gesprochen. Erzählte der Vater doch mal von seiner Zeit bei der Wehrmacht, dann standen „die Entbehrungen im Vordergrund, die Gefahr und die Kälte“. Weil er nichts konkretes weiß, hat L. „immer ein bißchen Angst, ihn auf Fotos mal zu erkennen“. Gefunden hat er den eigenen Vater in der Ausstellung nicht.

Alle Zitate aus: Besucher einer Ausstellung. Die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ in Interview und Gespräch. Herausgegeben vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburger Edition, 1998