Steh auf, Männchen

■ Ben Becker schwitzt Mampe halb und halb: „Berlin Alexanderplatz“ im Gorki

Die Bühne zeigt tatsächlich den Alexanderplatz. Doch unterirdisch, Treppen und Gänge, wassergrün gekachelt, daß einem die Fluchtpunkte vor den Augen verschwimmen und man weiß: Wenn man sich jetzt nicht zusammenreißt, kommt man hier nie wieder raus. Auch Franz Biberkopf weiß das und fängt gleich an, ordentlich zu schwitzen. Soeben aus dem Tegeler Gefängnis entlassen, darf er sich keinen Fehler leisten. Und doch stürzt er sich besinnungslos auf die erste Nutte und kriegt dann keinen hoch. Da ist gleich der Chor der Passanten zur Stelle, um zu erklären, was jetzt auch schon egal ist: „Die an der Potenz beteiligten Drüsen sind: Hirnanhang, Schilddrüse, Nebenniere ...“

„Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin im Maxim Gorki Theater. Fiebriges Großstadtgetümmel 1929. Die Chronik eines Untergangs und wie sich ein „kleiner Arbeiter“ trotz allem dagegen zur Wehr setzt. Als Drama bearbeitet vom Chefdramaturgen Oliver Reese, inszeniert von Uwe Eric Laufenberg auf einer Bühne von Christoph Schubiger. Mit Ben Becker. Der Musiker und Schauspieler Ben Becker in der Rolle des Franz Biberkopf ist das Herz der Inszenierung, Frank Seppeler als sein feindlicher Geliebter Reinhold die rechte Hand, und der Rest schaut so, wo er bleibt. Zwei grau bemalte, nackte Engel mit unsouverän großen Flügeln schleichen durch die Bilder, um sie zu kommentieren, Ulrich Anschütz und Andreas Bisowski. Szenen werden als Standbilder gezeigt, bevor es nach einem Black dann richtig losgeht. Der Chor der Passanten eilt expressionistisch umher, um Werbesprüche zu rufen oder einfach Masse zu sein, die Frauen tragen Kleingeblümtes. Später, sehr viel später an diesem viereinhalbstündigen Abend rennen alle an die Rampe, als wär's ein Stück von Schleef, und sagen auf. Chorsprechen können sie. Tragische Kraft aber haben sie keine.

Döblins Multiperspektive in ein stilistisches Multioptionsgemisch übersetzend, wird Laufenberg nur durch die Bühne von Schubiger gerettet, in der das Verfehlte wenigstens dekorativ wirkt und sich das Gelungene richtig wohl fühlen kann. Wenn der schon reichlich gebeutelte Biberkopf mit seinem Fräulein Mieze zu Hause ist, trennt eine Wand aus Glasfenstern die Vorderbühne vom U-Bahnhof hinten, und Filmcollagen aus den 20er Jahren werden darauf projiziert: Eisenbahnen, Alexanderplatzimpressionen und Menschen, die im Nichts verschwinden. Vor diesem Hintergrund klingt Ben Beckers kräftig berlinernder Volkston am besten und ist die hüpfende Kleinmädchenhaftigkeit der Mieze Regine Zimmermanns noch am ehesten zu ertragen. Strafentlassener Transportarbeiter, der seine Freundin erschlagen hat, will ein anständiges Leben beginnen. Zunächst hat Franz Biberkopf einen Bauchladen. Danach verkauft er Nazi-Zeitungen. Er findet einen Freund, Reinhold, der ihm aber bloß seine abgelegten Mädchen aufhalst. Er beteiligt sich an einem Diebeszug, will aussteigen, wird von Reinhold aus dem Auto geworfen und verliert seinen rechten Arm. Er kommt mit Mieze zusammen, erfährt aber, daß sie als Mätresse arbeitet. Er bleibt bei ihr und steigt wieder ins Diebesgeschäft ein. Da lernt Reinhold Biberkopfs Mieze kennen, bringt sie um und nennt Franz als Mörder.

In dieses schicksalhafte Leben stürzt sich Ben Becker mit geballter Kraft. Er dröhnt, schaut hemdsärmelig um sich und schwitzt Mampe halb und halb. Becker ist aufrecht in seinem Lebenshunger, seinem Schmerz und seiner Stehaufmännchenhaftigkeit. Man könnte sich einen mental gefährdeteren Biberkopf vorstellen, dieser aber ist gerade als Gegenpart zu Frank Seppelers Reinhold sehr gut. Nervös, stotternd, ungepflegt, nicht ohne jungenhaft brutalen Charme spielt Seppeler einen großstädtischen Psychopathen, der weinend in deinem Schoß zusammenbricht und dir gleich darauf das Messer in die Brust stößt.

Franz und Reinhold, Becker und Seppeler – ohne all die hausbackene Berlin-in-den-Zwanzigern-Folklore ringsherum hätte Laufenberg die Inszenierung getrost auf diese beiden zuspitzen können. Denn wie das ehrbar Scheiternde hier dem Morbiden verfällt, ist wahrscheinlich der Schlüssel zu Döblins Bild einer Zeit. Petra Kohse

Wieder am 4. – 6. Juni, 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater, Unter den Linden