Nervenaufreibender Wahlmarathon

An einem schwülen Sommerwochenende wählten die Grünen ihre Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl. Auf den aussichtsreichen 20 Plätzen sind fünf Ostler und sechs KandidatInnen unter 40 Jahren    ■ Von Dorothee Winden

In dem stickigen Saal eines Kreuzberger Seniorenheimes transpirieren 130 grüne Delegierte. Ausgerechnet am ersten heißen Sommerwochenende setzen die Grünen die Wahl ihrer Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober fort. Die ersten 13 Plätze hatte eine Mitgliederversammlung bereits Anfang Mai gewählt. Als aussichtsreich gelten die ersten 20 Plätze – vorausgesetzt, das Wahlergebnis der Grünen liegt wieder bei 13 Prozent. Doch in Umfragen liegen die Grünen – auch wegen des Kosovo-Krieges – derzeit bei 10 Prozent.

Die SPD hat das Ziel einer rot-grünen Koalition gar nicht erst in ihr Wahlprogramm geschrieben. Die grüne Landesvorstandssprecherin Regina Michalik attackiert die Genossen: „Für den Politikwechsel müssen klare Koalitionsaussagen her.“ Weil die SPD den Grünen hartnäckig ein Exemplar ihres Wahlkampfprogrammes verweigert, spottet sie: „So schlecht kann es doch gar nicht sein.“

Dann – was wäre ein grüner Parteitag ohne ihn – tritt Christian Specht ans Redepult. „Ein Ruck muß täglich durch die SPD gehen“, fordert der 30jährige Politaktivist. Es müsse Schluß sein mit der Großen Koalition. „Ich habe darauf keine Lust mehr“, sagt Specht und heimst Beifall ein und heitere Zustimmung. Zuvor haben die Delegierten auf Vorschlag des Tiergartener Bezirksverordneten Victor Dzidzonou eine Schweigeminute für die Opfer des Kriegs in Kosovo und Jugoslawien eingelegt. Schlagartig kehrte in dem sonst von Stimmengewirr erfüllten Raum eine bedrückende Stille ein.

Dann geht es ums Ganze, um die letzten fünf aussichtsreichen Listenplätze. Zehn Männer bewerben sich um Platz 14, auf dem sich derGesundheitspolitiker Bernd Köppl und der Haushaltsexperte Burkhard Müller-Schoenau ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Eine Stimme Mehrheit gibt den Ausschlag für Müller-Schoenau. Auf Platz 16 will Köppl ein letztes Mal antreten. Er findet die Kandidatenkür sichtlich nervenaufreibend.

Ganz entspannt verfolgt hingegen Sybille Volkholz die Ergebnisse. Sie hatte angesichts des großen Gedränges um die sicheren Listenplatz auf eine weitere Kandidatur verzichtet. Köppl kann sich auf Platz 16 gegen acht Mitbewerber durchsetzen. „Ich hoffe, damit bin ich diesmal nicht wieder der letzte der Liste, der ins Abgeordnetenhaus kommt!“ scherzt er mit ernstem Unterton. Um Platz 15, der wie jeder dritte Platz für Parlamentsneulinge reserviert ist, bewerben sich zehn Frauen. Schon im zweiten Wahlgang kann sich Almuth Tharan durchsetzen, die 36jährige Geschäftsführerin der grünen Fraktion in Prenzlauer Berg. Tharan, die 1990 aus Interesse zur Umweltpolitik zu den Ost-Grünen stieß, ist eine von fünf KandidatInnen aus dem Ostteil, die es auf einen der ersten 20 Plätzen schafft. Auf der Strecke bleibt hingegen Vollrad Kuhn, der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion. Er gibt nach Platz 22 enttäuscht auf. Als chancenlos erweist sich auch die Kandidatur des ausländerpolitischen Sprechers Ismail Kosan, nachdem das Nachwuchstalent Özcan Mutlu Platz 6 erobert hatte. Mutlu wird nach dem Abtreten von Volkholz die Bildungspolitik alleine schultern müssen – keine leichte Aufgabe für den 31jährigen.

Nur eine Lücke klafft in der grünen Liste: Das Ressort Wissenschaft ist verwaist. Doch sonst sind alle wichtigen Politikfelder auf den ersten 20 Plätzen abgedeckt: Um Sozialpolitik will sich künftig Dietmar Volk kümmern, an Wirtschaftspolitik sind gleich zwei Westlinke und Parlamentsneulinge interessiert: Lisa Paus und Jochen Esser. Jugendpolitik ist mit Jeanette Martins und Elfi Jantzen gut besetzt. Für Lesben- und Schwulenpolitik wird künftig der 32jährige Richter Bernhard Weinschütz zuständig sein.

„Es gibt auch ein Leben nach dem Abgeordnetenhaus“, hatte Regina Michalik in ihrer Rede gesagt. Draußen vor der Tür sinniert der Noch-Abgeordnete Uwe Dähn über verpaßte Chancen. „Mein größter Fehler war am Anfang der Legislaturperiode, als ich den alten Hasen geglaubt habe, es sei nicht wichtig, einen Sprecherposten zu übernehmen.“ Der 48jährige Regisseur überläßt das Amt der rührigen Alice Ströver, deren Einsatz mit Listenplatz 13 honoriert wurde. Doch Dähn kann dem Verlust des Abgeordnetenstatus auch etwas abgewinnen: Die pflichtgemäßen Theaterbesuche werden ein Ende haben. Schließlich registrieren die Theatermacher sehr genau, welcher Abgeordnete ihr Haus beehrt. Dähn freut sich: „Jetzt kann ich mir die Stücke ansehen, die mich wirklich interessieren.“