Kompliziert ist nur die Taktik

Im Norden Deutschlands herrschen nicht die besten Bedingungen für das Spiel mit den klackenden Kugeln. Dennoch ist Hamburg eine Hochburg des Pétanque in Deutschland   ■  Von Mathias Stuhr

Hamburg (taz) – Auf dem wunderschönen Areal vor dem schneeweißen Rathaus in Hamburg-Altona geht es locker zu. Einige Grüppchen aus Dauerstudenten oder Leuten, die so aussehen, stehen herum und werfen Stahlkugeln durch die lauwarme Frühlingsluft – die Saison ist eröffnet. Es wird gelacht, gefachsimpelt, es klacken die Kugeln, tatsächlich wird Rotwein getrunken, wenn auch nur aus dem Tetra-Pack. Jetzt nur nicht an Frankreich denken.

Es gibt Dinge, die sind außerhalb eines festen Vorstellungskorsetts, gewoben aus Vorurteilen und Klischees, anscheinend gar nicht denkbar. Bei Pétanque, respektive Boule, ist das ganz sicher so. „Früher haben diese Klischees, Udo Jürgens mit Rotweinglas und Baskenmütze und so, richtig genervt, ja geärgert“, gibt Torsten Prietz, derzeit einer der besten norddeutschen Spieler und 1998 deutscher Vizemeister, zu, „heute sehen wir das lockerer.“

Wie kann dieses Spiel in Deutschland, genauer Norddeutschland, überhaupt existieren? Es verlangt nach mindestens zwei, hier selten anzutreffenden Grundvoraussetzungen: Nach etwas französischem Savoir-vivre und, noch viel prekärer, nach gutem Wetter. Also wirklich, dieses Spiel muß es schwer haben. Hat es aber gar nicht. Es dauerte zwar über fünfzig Jahre, aber dann verbreitete sich Pétanque dank französischer Soldaten und deutscher Frankreich-Urlauber von den Gebieten nahe der französischen Grenze langsam in ganz Deutschland. Bis heute sind Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz aber die deutschen Zentren des Boule-Sports.

1963 wurde der erste deutsche Pétanque-Verein (1. Boule-Pétanque-Club Bad Godesberg) und 1977 der Deutsche Pétanque-Verband (DPV) gegründet. Spätestens mit dem Altonaer Boule Club (ABC) Hamburg, der die letzten drei Deutschen Meisterschaften gewann, hat auch Norddeutschland seinen Außenseiterstatus verloren. Torsten Prietz findet es besonders reizvoll, daß sich die spaßbetonten Freizeitspieler und die leistungsbetonten Sportler zusammenfinden und direkt messen können. Auch innerhalb seines ABC, der aus einem losen Verbund pétanqueverrückter Hamburger entstand, die seit Mitte der achtziger Jahre zusammen spielten, gibt es beide Fraktionen. Gerade für Anfänger ist Pétanque ideal: „Das Spiel ist sehr einfach, die Grundregeln kann man sich in zwei Minuten aneignen“, erklärt Prietz, „kompliziert ist die Taktik“, aber die lerne man im Laufe der Zeit. Der ehemalige Physikstudent hat selbst erst 1992 angefangen. Mit über 60 Spielerinnen und Spielern ist sein Klub seit der Gründung 1995 neben der LPG (Lustbetonte Pétanque-Gemeinschaft) zu einem der größten Boule-Vereine Hamburgs geworden. Es gibt inzwischen bundesweit ca. 10.000 Spielerinnen und Spieler mit internationaler Lizenz, die zur Turnierteilnahme berechtigt, und fast 100.000 Deutsche spielen hin und wieder, nur so zum Spaß.

Das ist Pétanque für seine ernsthafteren Vertreter nicht immer. Nationale SpitzenspielerInnen können ihr Tun in Kilozahl und Laufmetern nachweisen, Alkohol ist tabu, und die Kippe bleibt zu Hause. Torsten Prietz, der letztes Jahr an den Weltmeisterschaften auf Gran Canaria teilnahm (Deutschland wurde unter 42 Mannschaften 9., den Titel gewann wieder einmal Frankreich), weiß um die Problematik der Professionalisierung. Das Leistungsniveau steigt, der Ernst nimmt zu, und am Ende weiß keiner, warum es nicht mehr so „gemütlich“ ist wie früher. Die deutschen Spielerinnen und Spieler haben mit ihrem 5. Platz bei der erstmalig in Deutschland ausgetragenen Pétanque-WM 1996 in der Essener Grugahalle ihren Exotenstatus fast abgestreift, Weltmeister wurde auch damals Frankreich, das Mutterland des Spiels und selbstverständlich Rekordtitelträger. 1910 wurde in dem kleinen Hafenstädtchen La Ciotat (30 km südlich von Marseille) Pétanque (abgeleitet von franz. „pied-tanqué“ – Füße zusammen) geboren. Als radikal vereinfachte Form des Ur-Boules, des Jeu provencal, fand es rasche Verbreitung, und heute gibt es in Frankreich 500.000 Turnierspieler. Fast jeder zweite Franzose warf schon einmal eine Boule (franz. für Kugel). Hier gibt es sogar echte Profis mit Sponsorenverträgen, für den Rest ist Boule vor allem eine entspannte Lebensart.

Dieses Jahr sind die Franzosen wieder Gastgeber der WM. Sie bleiben das Maß der Dinge, auch wenn schon andere Länder Weltmeister wurden. Die Staaten des Mittelmeerraumes, besonders die ehemaligen französischen Kolonien Nordafrikas, Algerien und Marokko, sind harte Gegner. „Die Deutschen werden von den Franzosen langsam ernst genommen.“ beobachtet Prietz, „es wird aber noch dauern, bis wir für die echte Konkurrenten sind.“