: Gedämpfter Elan
■ Die Kunsthalle Tübingen zeigt das Werk von Wassily Kandinsky als Durchmarsch von russischer Folklore in mikroskopische Welten
Wassily Kandinsky ging 1933 nicht in die USA, sondern ins Nachbarland Frankreich ins Exil, weil er die Naziherrschaft für einen vorübergehenden Spuk hielt. 1944 starb er als französischer Staatsbürger kurz nach der Befreiung von Paris von deutscher Besatzung. Nina Kandinsky, die ihren Mann um 40 Jahre überlebte, vermachte 1981 seine Werke in ihrem Besitz dem Pariser Centre Georges Pompidou.
Die Kunsthalle Tübingen gehört jetzt zu den Nutznießern einer umfassenden Renovierung des Gebäudes, bei der für die Zeit der Schließung Werkkomplexe aus dem Bestand auf Reisen ins In- und Ausland gehen. Mit einer Auswahl von 123 Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen aus dem Kandinsky-Fonds beschließt Götz Adriani seine Tübinger Ausstellungstrilogie, die 1994 mit dem Frühwerk Kandinskys begann und in diesem Jahr mit der Ausstellung „Der Blaue Reiter“ fortgesetzt wurde. Es ist also verständlich, daß diese dritte Schau das teils noch von russischer Folklore, teils von den Pariser Fauves geprägte Frühwerk nur in wenigen exemplarischen Arbeiten (“Wolgalied“, „Pare von St-Cloud, beide 1906) vorstellt.
Der konsequente Weg in die reine Farbmalerei beginnt bei Kandinsky erst, als er 1908 den Sommer mit den Malerfreunden Alexej Jawlensky und Marianne Werefkin in der dörflichen Abgeschiedenheit von Murnau verbringt. Die Tübinger Schau zeigt aus diesen Jahren Ölbilder und Arbeiten auf Papier mit den programmatischen Titeln „Improvisation“, „Komposition“ und „Impression“. Mit lokker geschichteten Pinselbahnen befreit Kandinsky die Malerei von der Aufgabe plastischer Modellierung.
Kandinskys Bruch mit der von ihm 1909 mitbegründeten Neuen Künstlervereinigung München wird unvermeidlich, als er beginnt, Malerei als ein „Sprechen von Geheimnis durch Geheimes“ zu verstehen. 1911 gründet er zusammen mit Franz Marc in München die Redaktionsgemeinschaft „Der Blaue Reiter“. 1912 kommt es zur ersten und einzigen Ausgabe der Programmzeitschrift Almanach, in der Kandinsky auf die „an allen Enden Europas hervorsprießenden neuen Formen“ aufmerksam macht. Er sucht Gleichgesinnte für den Aufbruch in eine „Epoche des großen Geistigen“.
Die Tübinger Ausstellung gibt mit der Hervorbringung der Formfindungsprozesse durch eine große Zahl von Entwurfszeichnungen und Aquarellen reichlich Gelegenheit, Kandinsky gegen den Strich seiner messianischen und oft nebulösen Gedankenwelt wahrzunehmen. Insbesondere die Werke der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg haben nichts von ihrer „inneren Notwendigkeit“ eingebüßt. 1914 entsteht das farbig aufbrausende „Bild mit rotem Fleck“. In einem Brief an seinen Freund Arnold Schönberg spricht Kandinsky von einer Malerei, die „in abstrakter Wesentlichkeit auf die Verkörperung erst wartet“. Ab 1918 macht Kandinsky für einige Jahre Karriere in der bolschewistischen Kulturpolitik seiner russischen Heimat. Als ihn 1922 der Ruf ans Bauhaus erreicht, ist er allerdings wegen seines angeblich bourgeoisen Denkens bereits wieder aus allen staatlichen Ämtern entlassen. Dabei wird in Tübingen die Bedeutung seiner Begegnung mit dem Bauhaus-Künstler Paul Klee durch die Gegenüberstellung mit Papierarbeiten Klees demonstriert, die durch Schenkung oder Tausch in Kandinskys Besitz gekommen waren.
Die endgültige Schließung des Bauhauses im März 1933 treibt den zu weltweitem Ruhm gelangten Russen mit deutscher Staatsangehörigkeit noch einmal in die Emigration. Sie wird ihm durch eine Einladung der Pariser Surrealisten erleichtert. Doch der betont unpolitische Kandinsky kann mit der linksorientierten Clique um André Breton wenig anfangen. Sein Spätwerk aus den elf einsamen Jahren in Neuilly-sur-Seine ist dabei widersprüchlich: Der 75jährige Kandinsky durchstöbert mit offensichtlichem Vergnügen mikroskopische Welten auf der Suche nach primitiven Lebensformen. Auf Kürzel zurechtgestutzt verhalten sie sich nach der Regie des Malers „Kompliziert – Einfach“, erzeugen „Wechselseitigen Gleichklang“ oder „Gedämpften Elan“. Gabriele Hoffmann
Wassily Kandinsky, bis 27. 6., Kunsthalle Tübingen. Der Katalog kostet 39 Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen