Dieser zarte Hauch von Zensur

■ Die Hausaufgaben wurden nicht gemacht. Über die angebliche Verhinderung eines Walter-Benjamin-Romans, eine inszenierte Intrige und ihr willfähriges Personal

Das sogenannte Geistesleben der Gegenwart produziert nicht gerade aufregende Thesen zum Stand der Dinge. Folglich hält man sich an Goethe schadlos. Im Eifer der verschärften Gedenkoffensive fällt nicht weiter auf, daß sie sich einem so poetischen Ereignis wie der interesselosen Karawane der Dekaden verdankt.

Walter Benjamin ist auch ein toter Denker. Ein jüdischer Gelehrter, Linker, abtrünniger Großbürgersohn, Essayist und Fragmentarier auf der Suche nach dem, was noch zu schreiben bleibt. In der Offenheit seines Werks, in den Brüchen seiner Biographie und in seinem tragischen Ende entdeckte die melancholische Fraktion der Linken in den 60er und 70er Jahren ihren Heiligen.

Mittlerweile ist jene Linke ihren Gebrechen entweder erlegen oder vollends depressiv geworden. Trotzdem hat der amerikanische Literaturwissenschaftler und Autor Jay Parini einen Roman über das Leben Walter Benjamins geschrieben. Er erschien 1997 im New Yorker Verlag Henry Holt. Benjamin's Crossing“ – so der amerikanische Titel – erzählt von der Tragikomödie eines intellektuellen Sinnsuchers im irren Tumult der Geschichte. Die amerikanische Kritik lobte die einfühlsame Prosa über einen Scheiternden.

Eine deutsche Übersetzung des Romans hatte der Knaus Verlag für Februar 1999 angekündigt. Erst im November 1998 fiel dem Lektorat auf, daß in dem Roman zahlreiche Originalzitate von Benjamin vorkommen, die nicht als solche erkennbar sind und neben frei erfundenen Äußerungen des Roman-Benjamins stehen. Solche Zitate sind genehmigungspflichtig. Das hatte bereits der amerikanische Verlag versäumt, der damals von Michael Naumann geleitet wurde – heute unser Staatsminister für Kultur. So wandte sich der Knaus Verlag an den Suhrkamp-Verlag, der Benjamins Werke herausgibt, mit der Bitte um Genehmigung.

Am 16. April verweigerte die Walter-Benjamin-Nachlaßverwaltung die Abdruckrechte. Ohne Angabe von Gründen – wie der Knaus Verlag behauptete, um dann ohne weitere Rücksprache in die Offensive zu gehen. Anfang Mai insinuierte ein Dossier des Bertelsmann-Ablegers Knaus, bestimmte Kreise wollten ein Benjamin-kritisches Buch unterdrücken. Ein Hauch von Zensur kam auf, was in Zeiten, wo Auschwitz endlich von den Deutschen befreit wird, auch gleich den Rauch der Bücherverbrennung ins Bewußtsein weht. Es konnte der Eindruck entstehen, letztlich ging es eigentlich mal wieder um den deutschen Sonderweg, den die Linke oktroyiere.

Wie unanständig die Kampagne ist, läßt sich daran ermessen, daß es relativ leicht wäre, das Genehmigungsverfahren zu umgehen, durch Paraphrasen, Veränderung oder Kürzung der Originalzitate. Und natürlich steht der Verhandlungsweg für eine pure Routineangelegenheit noch offen. Schließlich hatten die Verlage Holt und Knaus ihre Schulaufgaben einfach nicht gemacht. Trotzdem ging das Kalkül des Verlags auf.

Die Zeit – das Wochenblatt auf der steten Suche nach dem unverbindlich Guten, Wahren, Schönen – nahm sich des schweren Falls an. Wie üblich wurde nicht recherchiert, sondern moralisiert. Tapfer widerlegte der Autor Gründe, die die Walter-Benjamin-Nachlaßverwaltung nie genannt hatte. Dabei hätten die Hamburger Moralverwalter nur um die Ecke gehen müssen; zu Jan Philipp Reemtsmas „Hamburger Institut für Sozialforschung“, denn da ist die Nachlaßverwaltung eingerichtet. Und ihr gehören drei illustre Herren an: Siegfried Unseld, Suhrkamp-Verleger, Walter Böhlich, der vor 30 Jahren in heftigem Streit ausgeschiedene Ex-Cheflektor von Suhrkamp, und schließlich der Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann, der seinerseits einen heftigen und öffentlich gewordenen Disput mit Unseld wegen Benjamin ausgefochten hat.

Weder dieses denkbar heterogene Kollektiv noch ein einzelner dieser Herren hätte das geringste Interesse an der „Unterdrückung“ eines Benjamin-Romänchens. Wer allerdings für die Wahrung von Textrechten verantwortlich ist, tut gut daran, auf korrekten Zitaten zu bestehen. Was denn sonst? Inzwischen haben die Nachlaßverwalter längst klargemacht, daß eine Kenntlichmachung der Zitate genügt, wenn diese nicht aus dem Englischen rückübersetzt, sondern aus der deutschen Originalausgabe zitiert werden. „Werden diese Bedingungen erfüllt, werden die Rechteinhaber keine weiteren juristischen Schritte unternehmen“, hieß es bei Suhrkamp.

Das alles wäre nicht weiter erheblich: eine kalkulierte Intrige und ihr willfähriges Personal. Doch – der Kollateralschlag möge mich treffen, wenn ich mich täusche – mir scheint, der Mangel an Leben im sogenannten Geistesleben und die fehlende intellektuelle Brisanz werden zunehmend hinter humanitären Kreuzzügen und moralischer Einschüchterung versteckt. Walter van Rossum