Erzählen, „daß wir auch Menschen sind“

Heute wird in Südafrika gewählt; die Südafrikaner ziehen Bilanz von fünf Jahren ANC-Regierung. Augenschein in Johannesburgs schwarzer Schwesterstadt Soweto, dem unübersichtlichen „Moloch neben dem Moloch“    ■  Von Kordula Doerfler (Text) und Henner Frankenfeld (Fotos)

Lulama Jacobs hatte einen Traum. Er wollte endlich seine Universitätsausbildung zu Ende bringen und dann Schriftsteller werden. Früher, als Schüler, schrieb er Gedichte.

Dafür hat er jetzt keine Zeit mehr. Tagsüber muß er arbeiten, und zu Hause gibt es keinen Strom, um abends Licht zu machen. Zu Hause, das ist eine dunkle Slumhütte aus Wellblech, Kartons und Holzplanken. Auch Jacobs' Mutter lebt da und seine drei Schwestern.

Fließendes Wasser gibt es ebensowenig wie sanitäre Anlagen, durch das Gewirr von dicht an dicht gebauten Hütten führen nur schmale Trampelpfade. Seit zwei Jahren wohnt Jacobs so in Matola, eine der ungezählten Slumsiedlungen, die am Rande von Soweto wuchern, direkt unterhalb der Abraumhalde eines stillgelegten Bergwerkes.

„Der ANC hat uns so vieles versprochen und so vieles nicht gehalten“, klagt er. „Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Wohnungsnot, all das ist kaum besser geworden.“ Dabei hat er selbst einen guten Job in einem boomenden Gewerbe. Durchschnittlich 2.500 Rand verdient er als ausgebildeter Leibwächter in einer privaten Wachschutzfirma, in guten Monaten kommen noch allerlei Zulagen dazu.

Sein Leben aber hat Jacobs sich anders vorgestellt, damals, als Schüler, als er in der aufsässigen Provinz Eastern Cape im Befreiungskampf aktiv war. Einer seiner Lehrer war der bekannte Aktivist Matthew Goniwe, von den Apartheidschergen ermordet, heute eine Legende. Doch das Eastern Cape ist bettelarm geblieben.

Vor zwei Jahren ging Jacobs ins ferne Johannesburg, in der Hoffnung, hier genug Geld zu verdienen, um sein Studium zu beenden. Jetzt aber muß er die Familie ernähren, und selbst die Slumhütte bekam er nur mit Beziehungen. Dabei steht er in Matola noch gut da. Die meisten seiner Nachbarn, oft illegale Einwanderer aus den noch ärmeren Nachbarländern Mosambik und Simbabwe, sind nach wie vor arbeitslos.

Zu Tausenden kommen sie jeden Monat, um in der „Stadt des Goldes“, wie Johannesburg auch heißt, irgendwie zu überleben. Erster Anlaufpunkt ist dann entweder der Stadtteil Hillbrow in der Innenstadt – oder Soweto, Südafrikas größtes Township.

Das Wort „Township“ ist eine unangemessene Verniedlichung. Soweto, 15 Kilometer südwestlich von Johannesburg – so erklärt sich auch der Name, eine Abkürzung für „South Western Township“ – ist eine zweite Millionenmetropole, ein Moloch neben dem Moloch, mit eigenen Gesetzen. Die Apartheidzeit hat das Kunstprodukt nicht nur überlebt, es wächst und wuchert weiter. Amtlichen Zahlen zufolge sollen dort 1,3 Millionen Menschen leben, aber das glaubt man nicht einmal in der Stadtverwaltung. Tatsächlich sind es weit mehr, vielleicht zwei Millionen, vielleicht sogar vier.

Noch immer leben Millionen von ihnen in wilden Siedlungen, vor deren Beharrlichkeit man mittlerweile oft kapituliert hat. Moetsedi, mitten in einer Brache, ist so ein Ort. Die Stadtverwaltung hat aus der Not eine Tugend gemacht und Strom- und Wasserleitungen gelegt und Toilettenhäuschen aufgestellt. Die Hütten haben kleine Gärten, dazwischen führen ungeteerte Straßen durch. Für viele ist das mehr, als sie je besaßen.

„Mir geht es besser als früher“, sagt Sandrina Goniwe. Auch sie stammt aus dem fernen Eastern Cape, aus dem Nachbardorf von Nelson Mandela. Am Straßenrand verkauft die junge Frau auf ein paar zusammengenagelten Brettern Klopapier und Deodorants, Nylonstrumpfhosen und Plastikschüsseln. „Das hätten wir früher nicht gedurft“, sagt sie. Eine Lizenz braucht sie dafür nicht. Das Entstehen eines ganzen Netzes von typisch afrikanischem Kleinstgewerbe kann und will der ANC nicht reglementieren, entlastet es doch den Arbeitsmarkt ein wenig.

Nach fünf Jahren Demokratie geht es Südafrikas schwarzer Mehrheit nur ganz langsam besser. Wer den Wandel an Orten wie Soweto aufspüren will, muß zweimal hinsehen, aber es gibt ihn. Es gibt Ansätze von Infrastruktur, die in anderen Teilen Südafrikas selbstverständlich sind: Häuser und Straßen werden repariert, dazu kommen öffentliche Telefonzellen, kleine Geschäfte, ein paar neue Schulen, Ampeln – und die fliegenden Händler.

Der tägliche Überlebenskampf macht erfinderisch, gehandelt wird mit allem und jedem: Obst und Gemüse, traditionellen afrikanischen Heilmitteln, Auspuffen, Waschmitteln, Schrott und Fertigbauteilen für bessere Slumhütten. „Der entscheidende Unterschied ist, daß sich heute jeder an öffentlichen Entscheidungen beteiligen kann“, sagt Nandi Mayathula-Khoza. „Früher waren wir wie unmündiges Vieh, über das andere bestimmt haben.“ Dabei lacht sie, ohne Bitterkeit.

Die 37jährige Frau weiß, wovon sie redet. Seit fast zwei Jahren ist sie Bürgermeisterin der unregierbaren Riesengemeinde, die heute mit mehreren anderen Vororten eine der fünf neuen Verwaltungseinheiten von Johannesburg bildet. In den öffentlichen Kassen ist viel zuwenig Geld, aber die ANC-Politikerin ist trotzdem stolz auf das, was man schon geschafft hat. „Nur wer nie in Soweto gelebt hat, kann behaupten, es hätte sich nichts geändert.“ Zugleich räumt sie ein, daß man in vielem noch am Anfang steht. „Vor allem Platz ist ein Problem. Es gibt viel zuwenig Häuser und Land, das entwickelt werden kann.“

Was es auch nicht gibt, ist Arbeit. Soweto, vom weißen Regime als reine Schlafstadt für Schwarze errichtet, hat bis heute keine nennenswerte Industrie. Wer Arbeit hat, hat sie in der Regel in Johannesburg. Zehntausende von Sammeltaxis, das gängige Verkehrsmittel in Südafrika, drängeln sich morgens und abends auf der Autobahn in die Stadt und zurück. Der Kampf um Fahrgäste ist erbarmungslos.

Soweto ist ein Ort der Superlative. Alle fünf Minuten wird eine Frau vergewaltigt. Jeder zweite Township-Bewohner ist arbeitslos. In Soweto gibt es 300 Kirchen, 400 Schulen, aber nur 12 Polizeiwachen und noch immer kein großes Einkaufszentrum.

Sowetos Baragwanath-Krankenhaus ist das größte der südlichen Erdhalbkugel. Alle zehn Minuten wird dort ein Kind geboren, das ergäbe jährlich eine Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern. Wer sich auf die betriebsame Brücke stellt, die vor dem Krankenhaus über die Straße führt, sieht ein endloses Häusermeer vor sich: winzige einstöckige Häuser, Streichholzschachteln genannt, in rechtwinklig angelegten Straßen. Zu Millionen siedelte das Apartheidregime Schwarze aus den Innenstädten in die gesichtslosen Wohnviertel weit außerhalb um, politischer Aufruhr sollte durch die monotone, leicht kontrollierbare Bauweise unterbunden werden.

Das Kalkül der weißen Machthaber allerdings ging nicht auf. Soweto ist bis heute ein Synonym für den Kampf gegen die unmenschlichen Gesetze der Apartheid. Die Bilder von den Schüleraufständen 1976 gingen um die Welt. Innerhalb der schwarzen Townships entstand eine vollkommen eigene Kultur, die heute paradoxerweise viele Schwarze für „die“ ursprüngliche südafrikanische Kultur halten – doch die ist längst ausgerottet.

Und was die weißen Herren so schön „getrennte Entwicklung“ nannten, ist weitaus zählebiger als das Regime selbst. Schwarz und Weiß leben auch weiter getrennt, ohne staatlichen Zwang.

„Auf unseren Straßen sind immer Menschen unterwegs. Hier werden ein Dutzend südafrikanische Sprachen gesprochen“, sagt Howard Themba. Selbst wenn er könnte, würde er nicht aus Soweto wegziehen. Themba arbeitet als Fremdenführer bei einem der zahlreichen Unternehmen, die in teuren Halbtagesausflügen Touristen durchs Township karren.

Lazarus Thsidzumza, sein Kollege, widerspricht dem Mythos: „Hier wohnt nur, wer nicht anders kann.“ Mühsam hat sich der 43jährige nach oben gearbeitet. Daß er ohne abgeschlossene Schuldbildung heute studierte Touristen an die ruhmreichen Stätten des Kampfes führt, macht ihn aber doch stolz. Die liegen im alten Kern von Soweto, da, wo auch die ANC-Aristokratie ihre Häuser hat.

Das Denkmal für den 1976 ermordeten Schüler Hector Petersen gehört dazu und auch das erste Haus, in dem Nelson und Winnie Mandela gemeinsam gelebt haben. Um die Ecke sind die Häuser von Desmond Tutu, Walter Sisulu und die millionenschwere Trutzburg, die Winnie Mandela heute bewohnt.

Das Geschäft mit dem Tourismus in Soweto geht gut. Begierig läßt sich eine Gruppe schwarzer Amerikaner Schauergeschichten aus dem „struggle“ erzählen, aufgeregt laufen sie durch das winzige Mandela-Haus. „Die Touristen sind sehr wichtig für uns“, sagt James Mofokeng, der sich als Reiseunternehmer kürzlich selbstständig gemacht hat. „Sie können erzählen, daß wir auch Menschen sind.“

Die Touristen kommen aus den USA und England, aus Deutschland und aus Japan – nur nicht aus Südafrika. Für weiße Südafrikaner sind Townships Orte geblieben, die in einem anderen Kontinent liegen. Wer sich selbst gern in menschenleeren Vororten hinter meterhohen Mauern und Stacheldraht verbarrikadiert, muß sich im unübersichtlichen Häusergewimmel bedroht fühlen. Bis heute betreten weiße Johannesburger Soweto am liebsten gar nicht oder nur unter Todesängsten.

Daß es auch in Soweto ganz unterschiedliche Wohngegenden gibt, würde die meisten überraschen: Diepkloof mit seinen protzigen Millionärsvillen und Vorgärten mit Rosenstöcken, Orlando, das alte Soweto, die endlosen Siedlungen der Arbeiter, die Slums - und die Neubausiedlungen, die die Apartheidstrukturen scheinbar endlos fortführen. „Eine wirklich gemischtrassige Stadtplanung müssen wir erst entwikkeln“, sagt auch Thabo Mbeki, Südafrikas nächster Präsident.

Evelyn Mphale hat keinen Grund zu klagen. Seit drei Jahren wohnt sie mit ihrer Familie in einem nagelneuen Reihenhaus weit draußen am Westrand von Soweto, in der Musterhaussiedlung Protea Glen. 75.000 Rand kostet das kleine Vier-Zimmer-Haus, monatlich müssen 1.500 Rand abbezahlt werden. Ihr Mann arbeitet bei einer Zuliefererfirma für Bergwerke, ihre Kinder gehen auf gute Schulen.

Etwa zwei Kilometer weiter liegt das Shopping Centre von Protea Glen, das aussieht wie aus einem Hochglanzprospekt. Der Parkplatz ist peinlich sauber, der Rasen gepflegt, neue Autos stehen vor den Geschäften. Von einer Drogerie über ein Möbelgeschäft bis zu einem Grundstücksmakler gibt es hier alles, was der neue schwarze Mittelstand begehrt. In Protea Glen lebt die schmale Schicht derer, die vom Wandel in Südafrika profitiert und die Demokratie vor allem mit Konsum gleichsetzt.

„Früher durften wir gar keine Häuser besitzen“, sagt Evelyn Mphale. „Heute ist unser Leben viel besser, und das hat der ANC geschafft.“