Nicht einfach Kilometer bolzen

Mit Hilfe eines speziellen Computerprogramms werden im Darmstädter Sportgesundheitszentrum Laufbegeisterte in nur fünf Monaten für einen Marathon fit gemacht  ■   Von Thomas Herget

Darmstadt (taz) – Nein, die Herrschaften mittleren Alters, die jetzt gerade etwas ungelenk ihre Leiber auf bonbonfarbenen Hüpfbällen in der Horizontalen halten, gehören nicht zur ortsansässigen AOK-Rückenschule. Vielmehr eint die Gruppe in der schlecht geheizten Gymnastikhalle der Triumph aller Neulinge, den inneren Schweinehund auf langer Distanz besiegt zu haben. Und weil das so bleiben soll, hängt das keuchende Laufvolk mehrmals wöchentlich im Kurs „Funktionsgymnastik“ ihrer prominenten Vorturnerin an den Lippen. „Klaus, dein Blick ist heute so leer“, urteilt Charlotte Teske und greift zu den Kurzhanteln. Während Klaus der Aufgalopp im angrenzenden Wald noch in Kopf und Gliedern zu stecken scheint, ist die ehemalige Deutsche Marathon-Meisterin gedanklich schon weiter, bei Iris, die letzte Woche mit Grippe im Bett lag, Hans-Jürgen, dem es gestern in der Wade zwickte, oder Gabi, der es nach gerade überstandener Meniskusoperation wieder nach Bewegung durstet.

„Wiederholungstäter“, nennt Dieter Bremer all jene, die sich letztes Jahr beim Debüt seines Marathon-Projektes zur Verfügung stellten und seitdem „einfach nicht mehr loszukriegen sind“. Wegen des regen Zuspruchs laufbegeisterter Neulinge weitete man das Projekt diesmal auf rund 50 Vereine und Lauftreffs aus. Der Dozent am Darmstädter Hochschulsportzentrum wollte den Beweis antreten, daß auch Anfänger in nur fünf Monaten komfortabel und ohne Probleme an die Marathondistanz herangeführt werden können. Das Ergebnis bestätigte die Vermutung des Sportlehrers: Von den 36 Teilnehmern gingen 28 beim letztjährigen Frankfurt-Marathon an den Start, 27 kamen ins Ziel. „Wir wollten tags drauf die Gymnastik natürlich ausfallen lassen“, erzählt Bremer stolz, „aber dann standen 24 Stunden nach der Tortur plötzlich alle Finisher wieder auf der Matte.“

Im Sportgesundheitszentrum der Technischen Universität und der Fachhochschule (SGZ) waren die Rahmenbedingungen, Neueinsteiger auch medizinisch über einen längeren Zeitraum an lange Distanzen heranzuführen, schon vor Jahren geschaffen worden. Nun legte ein spezielles Computerprogramm erstmals die individuellen Höchstwerte im Pulsbereich fest. Die Fitneßwerte, die am Darmstädter Klinikum bei einer Eingangsuntersuchung zugrunde gelegt wurden, waren auch der Maßstab, nach dem jeder Teilnehmer die Trainingseinheiten nach seinem persönlichen Zeitbudget wählen konnte. Zudem hatte der laufbegeisterte Lehrer mit Charlotte Teske eine Partnerin zur Seite, die bei der konzeptionellen Umsetzung der Idee auf der gleichen Wellenlänge schwang.

Neueinsteiger binnen kürzester Zeit konditionell auf Trab zu bringen, weiß Bremer, sei die leichtere Aufgabe. „Das Hauptproblem sind die orthopädischen Schäden, die es über die Dauer des Marathons hinaus zu minimieren gilt.“ Reine Kilometer-Bolzerei wolle man vermeiden, auch „weil mir in all den Jahren kein Läufer begegnet ist, der sich nicht mit Gelenkproblemen herumgeschlagen hätte“, sagt Bremer und faßt sich selbst an die geschundenen Lendenwirbel.

Das frisch operierte Bein, das Gabi Wüst nach den Dehnübungen jetzt nachzieht, ist aber keine Spätfolge ihres ersten Marathons. Der scheuernde Meniskus, versicherte man ihr im Krankenhaus, sei vielmehr eine schmerzende Erinnerung an ihren falsch verstandenen Sportlerehrgeiz früherer Jahre. Unregelmäßig sei sie gelaufen, „und wenn, dann volle Pulle.“ Stets nach anstrengenden 10-Stunden-Schichten als MTA: „Immer wenn ich kaputt war, dachte ich, meinem Körper was Gutes getan zu haben.“ So hat sie es bis zum Halbmarathon gebracht, „mehr wollte ich nie“.

Bis letzten Frühjahr. Da ist sie über einen Zeitungsartikel zum Darmstädter Marathon-Projekt gekommen. Hier hörte sie erstmals von „Regenerationsläufen“. Daß sich der Körper unterhalb einer bestimmten Herzfrequenz auch während langer Läufe vom Laufen erholt, „war mir neu.“ Seitdem der Pulsmesser zu ihrem wichtigsten Streckenpartner im Wald geworden ist, geht ihr auch bei Übererfüllung des Plansolls (drei Laufeinheiten pro Woche gelten als Mindestanforderung) selten die Luft aus. Den Gang zu den laufbegleitenden Kursen (angeboten werden Laufstilanalyse, Lauftechnikschulung, Körperstatiktest und Funktionsgymnastik) hat sie gerade auf den letzten Kilometern von Frankfurt schätzen gelernt: „Nach zwei Drittel der Distanz wollte ich mit meinem Unterkörper nichts mehr zu tun haben.“ Wie auf Knopfdruck habe sie dann das verinnerlichte Programm für die optimale Körperhaltung vor ihrem inneren Auge abgespult.