„Geld, sonst töten wir euch“

■ 120 Männer wurden Ende März in der Ortschaft Izbica von serbischen Soldaten ermordet. Die Häuser wurden in Brand gesetzt. Frauen, Alte und Kinder ließ man in Richtung Albanien ziehen, nachdem „die Serben“ sie um ihr letztes Geld gebracht hatten. Sie traten eine Odyssee durch das Kosovo an. Eine Augenzeugin aus Izbica berichtet.

Die Serben kamen am späten Abend des 26. oder 27. März während des muslimischen Bajram-Festes in Izbica an. Es waren etwa fünfzig. Einige brüllten Befehle. Ihre Stimmen waren so laut, daß sie die Kinder erschreckten. In dieser Zeit war Izbica zu einem Zufluchtsort für Albaner aus den umliegenden Dörfern geworden. Die Leute flohen nach Izbica, nachdem die Nato-Angriffe begonnen hatten. Das war auch der Zeitpunkt, zu dem die Serben anfingen, die umliegenden Dörfer zu beschießen.

Als die Serben am späten Abend eintrafen, verließen fast alle jungen Männer das Dorf. Sie gingen in die Berge, um sich zu verstecken oder zu kämpfen. Als wir die Serben kommen sahen, trauten wir uns nicht mehr, im Haus zu bleiben. Mit einem Traktor fuhren wir zu einem Feld ganz in der Nähe: ich, meine Mutter und mein Vater, mein Bruder, meine Schwester, ihre Familie und ihre Schwiegermutter. Insgesamt waren wir zu zehnt. Auf diesem Feld schlossen wir uns den anderen Leuten aus dem Dorf an. Um vier Uhr morgens, also ein paar Stunden nachdem die jüngeren Männer gegangen waren, hatten die meisten Familien ihre Häuser in Izbica verlassen. Um zehn Uhr waren alle auf dem Feld. Es waren Tausende Menschen, fast nur Frauen, Kinder und Ältere. Nur etwa 150 Männer waren darunter.

Auf dem Weg zu dem Feld ereignete sich ein Unfall, bei dem ein Kind zu Tode kam. Es regnete, ein Traktor kam ins Rutschen und überschlug sich. Eine Frau versuchte abzuspringen, um ihre sechsjährige Tochter zu retten. Die Frau überlebte, aber die Tochter wurde getötet.

Auf dem Feld stiegen alle von ihren Traktoren und rückten eng zusammen. Hier draußen konnten wir wenigstens alle zusammensein. Wir hatten zu große Angst, allein in unseren Häusern zu bleiben. Denn dort hätten die Serben leichtes Spiel, uns umzubringen. Vom Feld aus konnten wir sehen, wie die Serben unsere Häuser in Brand steckten. Sie schossen in die Luft und brüllten herum, beleidigten uns und erschreckten die Kinder. Sie riefen: „Gebt uns Geld, wenn ihr überleben wollt!“ Für eine Familie verlangten sie tausend Mark, hundert Mark sollte es kosten, seinen Traktor behalten zu können. Jeder zahlte für seine eigene Familie. Mein Vater mußte ihnen 1.100 Mark geben.

Nachdem sie das Geld erhalten hatten, schossen die Serben in die Reifen der Traktoren und verbrannten unsere Sachen, die wir auf die Traktoren geladen hatten. Sie setzten auch die Schule in Brand. Gegen elf Uhr morgens trennten sie die bei uns gebliebenen Männer von den Frauen. Als wir sie fragten, warum sie das täten, brüllten sie: „Haltet das Maul, fragt nicht, sonst bringen wir euch um!“ Die Kinder hatten Angst. Die Serben riefen: „Wir werden euch töten, und wo sind jetzt die Vereinigten Staaten, um euch zu retten?“ Die Frauen hatten aus Angst vor den Serben ihre Köpfe mit Tüchern bedeckt, womit sie Haare und Stirn zu verstecken hofften. Die Serben riefen uns ständig obszöne Dinge zu, sie sagten: „Fickt alle albanischen Mütter!“ und „Alle albanischen Frauen sind Nutten“.

Sie führten die Männer ab und ließen sie sich zwanzig Meter von uns entfernt aufstellen. Dann befahlen sie uns, nach Albanien aufzubrechen. Sie sagten: „Ihr wolltet doch unbedingt ein Groß-Albanien, jetzt könnt ihr dort hingehen.“ Sie schossen über unsere Köpfe in die Luft. Wir folgten ihrer Order und bewegten uns in die befohlene Richtung. Nach hundert Metern beschlossen die Serben, auch die über Zehnjährigen aus unserer Gruppe auszusortieren. Jungs ab vierzehn Jahren waren schon bei den Männern. Nur die noch jüngeren durften bei uns bleiben, und ein alter Mann, der ein Bein verloren hatte. Und mein behinderter Bruder, der wegen einer Wirbelsäulenerkrankung nicht laufen kann.

Sie nahmen die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen, die sich den Männern anschließen mußten. Die Mütter der Jungen schrien. Einige versuchten auch, mit den Serben zu reden, aber die stießen sie weg. Wir gingen sehr langsam weiter, weil wir so in Sorge waren, was mit unseren Männern geschehen würde.

Wir hielten an, als wir Schüsse aus automatischen Gewehren hörten. Wir sahen uns um, aber es war nicht mehr möglich, die Männer zu sehen. Wir sahen, wie die Zehn- bis Vierzehnjährigen hinter uns hergelaufen kamen. Als sie uns erreichten, fragten wir sie, was passiert sei. Sie waren sehr aufgeregt. Einer sagte schließlich: „Sie haben uns freigelassen, aber die anderen haben sie umgebracht.“

Wir blieben dort etwa zwanzig Minuten. Alle weinten. Das Feuer aus den automatischen Gewehren ging noch einige Minuten weiter, danach hörten wir kurze, unregelmäßige Feuerstöße. Unter den Getöteten befanden sich mein Vater, mein Onkel und mein Cousin. Kajtaz Rexha und Quazim Rexhepi wurden auch getötet, außerdem viele andere Mitglieder der Familien Bajraj, Bajrami, Rexhepi und Aliu. Dann holten uns zehn Serben ein. Sie beschimpften uns auf obszöne Weise und befahlen uns noch einmal: „Ihr müßt jetzt nach Albanien gehen, haltet nicht an, geht einfach.“ Wir mußten aufbrechen.

Viele Stunden später, als wir etwa vierzig Kilometer gegangen waren und es dunkel geworden war, zwang uns eine andere Gruppe serbischer Soldaten in eine große Grube neben der Straße. Es schien, als hätten diese Soldaten mit den anderen per Funk gesprochen. Die Grube war so tief, daß wir kaum hinaussehen konnten. Von den Soldaten sahen wir nur die Köpfe und ihre Waffen. Sie zwangen uns, uns hinzusetzen, und kündigten an: „Jetzt werden wir euch mit Panzern überfahren.“

Wir sahen die Panzer schon kommen, mit ohrenbetäubendem Lärm ratterten sie heran. Als sie nur noch fünf Meter von uns entfernt waren, begannen wir zu schreien, wir hatten buchstäblich den Tod vor Augen. Die Frauen versuchten, ihre Kinder unter sich zu verbergen. Meine Mutter war bei mir und mein verkrüppelter Bruder, den wir in einer Schubkarre mitgeschleppt hatten. Alle hatten wahnsinnige Angst und schrien. Als wir die Hoffnung schon aufgegeben hatten, stoppten die Panzer kurz vor uns. Einer der Serben sagte: „Wenn ihr überleben wollt, kostet euch das 5.000 Mark.“ Eine Lehrerin aus dem Dorf sammelte Geld ein, ich gab ihr hundert Mark.

Als sie die geforderte Summe zusammenhatte, kam ein Serbe in die Grube, und sie gab ihm das Geld. Daraufhin sagte er: „Ihr könnt jetzt gehen.“

Weil ich die Schubkarre schob und ein Herrensakko trug, hielten sie mich für einen Mann. Ich sollte anhalten und zu ihnen kommen. Nie zuvor in meinem Leben habe ich eine solche Angst gehabt. Mit einer Taschenlampe leuchteten sie mir ins Gesicht und merkten, daß ich eine Frau bin. Da ließen sie mich gehen.

Wir hatten großen Hunger, aber sie nahmen uns das Brot ab, denn sie sagten, wir brauchten kein Brot, das aus dem Kosovo stammt. Wir marschierten drei Tage und Nächte, ohne zu essen und ohne uns auszuruhen. Schließlich erreichten wir Djakovica, wo uns Serben zwangen, in einem zerstörten Haus, das keine Fenster mehr hatte, zu bleiben. Wir durften etwas Wasser aus einem Bach trinken und konnten ein wenig schlafen.

Wir gingen weiter in Richtung Grenze, die Kinder waren sehr hungrig. In einem kleinen Dorf machten wir halt. Andere Flüchtlinge luden dort meinen verkrüppelten Bruder auf ihren Traktor. Mit meiner Mutter ging ich weiter. Nahe der Grenze warteten wir einen Tag und eine Nacht lang ab. Am nächsten Morgen forderten uns die Serben auf, in unser Dorf zurückzukehren. Ich weiß heute nicht mehr, an welchem Tag das war. Alles war überdeckt von der Erinnerung an den Tag, an dem sie meinen Vater umbrachten.

Wir sagten: „Wie können wir jetzt umkehren? Wir haben nichts zu essen, wir sind völlig erschöpft!“ Die Serben sagten: „Ihr kehrt um!“ Mein Bruder mußte wieder herunter vom Traktor. Alle kehrten um, außer meiner Mutter, meinem Bruder und mir. Wir blieben mitten auf der Straße stehen. Ich hielt einen Polizeiwagen an, verlangte von den Beamten, uns zu helfen. Der Polizist wurde sehr ärgerlich, aber er wies eine Gruppe auf einem Traktor an, uns mitzunehmen.

Wir kamen nach Zrze, wo wir eine Woche lang blieben und die Leute uns halfen, indem sie uns zu essen gaben, und wir uns ausruhen konnten. Soldaten und Polizisten bestahlen auch dort die Leute, wir hatten Angst, sie in Schwierigkeiten zu bringen, denn unsere Heimatgegend gilt als UÇK-Gebiet.

Mit einem Bus gelangten wir dann über Djakovica zur Grenze. Der Bus wurde von serbischen Soldaten angehalten, die uns unser letztes Geld abnahmen. Der Busfahrer war ein Serbe, aber er war sehr freundlich zu uns. Am 17. April erreichten wir die Grenze. Die Grenzer nahmen uns die Papiere ab und warfen sie in den Müll. Auf der albanischen Seite gab es Wasser und etwas zu essen.

Die Soldaten zwangen uns, uns hinzusetzen, und kündigten an: „Jetzt werden wir euch mit unseren Panzern überfahren.“