„Hängen der Zeit hinterher“

■ Die neugegründete Gruppe Türkgay Nord faßt ein heißes Eisen an: Die Selbstfindung türkischer Schwuler und Lesben / Probleme gibt es mit traditionalistischem Familienbild

Wenn in Hamburg und bald überall die Schwulen und Lesben heiraten und ihre schöne schwul-lesbische Welt feiern, mag es erstaunen, wenn sich noch homosexuelle Selbsthilfegruppen gründen. Doch seit Anfang Mai bietet die Gruppe Türkgay Nord einen neuen Treffpunkt für schwule und lesbische Türken in Bremen.

Und das aus gutem Grund, wie die Initiatoren meinen: „Die Türken hängen der Zeit immer noch hinterher“, erklärt der 28jährige Mitbegründer Cemal L., warum die Selbsthilfegruppe notwendig sei. „Viele Türken glauben, daß Schwulsein eine Krankheit ist, die vorübergeht. Sie wissen gar nichts über das Anderssein.“

Warum es einer eigenen Gruppe für Türken und andere Ausländer bedarf, machen Cemal und sein 27jährigen Mitstreiter Mete* schnell klar: „Ausländer haben ganz eigene Sorgen. In deutschen Selbsthilfegruppen kann uns nur wenig geholfen werden, da die spezielle Problematik für Deutsche oft nicht nachvollziehbar ist“, erzählt Cemal aus eigener Erfahrung.

Besondere Probleme tauchen zum Beispiel bei Freunden im Ausland auf, die kaum nach Deutschland geholt werden können. Auch eine mögliche Rückkehr in die Heimat und damit in eine andere schwulenfeindliche Welt stellt sich einigen als unvermeidbarer Gegensatz in den Weg. „In der Türkei werden die Gefühle ganz einfach unterdrückt. Schwulsein findet dort in einer anderen Form statt: Heimlich und immer mit der Gefahr entdeckt zu werden“, erklärt Mete die Situation und die Not zur Anpassung in der Türkei.

Doch die zentrale Schwierigkeit bei fast allen schwulen Türken und lesbischen Türkinnen stellt die Auseinandersetzung mit der oft noch traditionalistisch geprägten Familie dar: „Viele Familien verstoßen ihr Kind, wenn sie erfahren, daß es schwul bzw. lebisch ist“, macht Cemal die drastische Konsequenz deutlich. Aber nicht nur die Tradition scheint einem gemeinsamen Leben im Weg zu stehen. Cemal führt auch ganz praktische Gründe für die Verständnisprobleme an: „Unsere Eltern hatten überhaupt keine Sexualaufklärung. Das sind ganz einfache Menschen, die gar nicht wissen, was es mit dem Schwulsein auf sich hat. Wir müssen unseren Landsleuten erklären, daß Schwulsein keine Krankheit ist“, sind sich beide zwar über das Ziel einig, aber der Weg ist ihnen noch unklar.

Um den Problemen zu Hause aus dem Weg zu gehen, bleibt oft nur eine Strategie: Schnell von zu Hause auszuziehen und nach Möglichkeit in eine andere, größere Stadt zu gehen. Wer nicht wegzieht, muß häufig das Thema totschweigen und sich dem Willen der Familie beugen. Oft genug, so Cemal, würde das auch eine Heirat nach dem Willen der Eltern bedeuten. Das lebenslange Versteckspielen ist somit vorprogrammiert.

Cemal selbst hat sein Anderssein weder totgeschwiegen, noch versucht, es außerhalb der Familie auszuleben. Er ging den harten Weg der Auseinandersetzung: „Es war ein langer Kampf. Aber mittlerweile haben sich meine Eltern damit abgefunden.“

Als wären die Probleme der Schwulen in der türkischen Kultur nicht groß genug, ist auch das Türkischsein in der schwulen Szene oft nicht leicht: „Viele behandeln uns als reines Sexobjekt. Türken gelten als besonders männlich.“ Cemals Versuch, per Kontaktanzeige Anschluß bei anderen Türken zu finden, endete mit über dreißig Briefen ausschließlich von Deutschen, die ihn kennenlernen wollten.

Diese Oberflächlichkeit und der alltägliche, kleine Rassismus ließen Cemal und Mete vorsichtiger werden. Sie haben auch die Gruppe gegründet, um diese Erfahrungen nicht umsonst gemacht zu haben. Dabei ist es heute einfacher, als Türke in die Szene einzusteigen, als vor zehn Jahren, als Cemal seine ersten Schritte machte. „Es gibt mittlerweile viel mehr Türken auf den Parties und in den Kneipen“, freut sich Cemal über diesen positiven Trend und wünscht sich annähernd so nette Verhältnisse wie in Köln oder Hamburg, wo es regelmäßig orientalische Parties mit vielen türkischen Schwulen gibt.

Kai Lehmann

(*) Name von der Redaktion geändert.

Türkgay Nord trifft sich jeden ersten und dritten Freitag im Monat ab 20 Uhr im Rat&Tat-Zentrum (Theodor-Körner-Str.1)