Enterhaken am Ausschnitt

Eigentlich ist Ilona Bausenwein Gemeinderätin in Tübingen. Bekannt geworden ist sie dort aber vor allem als dutzendfache Fledermausmutter. Sie lebt mit den „niedlichen Vampiren“ in einem Keller, zieht verwaiste, verletzte oder erschöpfte Jungtiere auf. Ein Porträt  ■ von
Marianne Mösle

Lili die Zarte, die Süße – sie schläft beim Fressen ein. Während sie Drohnenbrut aus der Pipette nuckelt, fallen ihr die Augen zu. „Na komm, darfst noch ein bißchen weiterschlafen, mein Mädchen.“ Ohne sich zu zieren, schiebt Ilona Bausenwein das drei Wochen alte Fledermausbaby unters T-Shirt. Da strampelt sie noch ein wenig, dann hat sich Lili an der Brust ihrer Pflegemutter eingehängt und träumt vom siebten Fledermaushimmel.

Vampir um den Hals, Vampir auf dem T-Shirt, Vampir am Ohr: Wer die Tübinger Tierschützerin Bausenwein kennt, weiß, daß sie „auf Fledermäuse steht“. Früher waren es Hunde, irgendwann ist sie auf die Flattermänner mit den spitzen Öhrchen gekommen, „weil die viel intelligenter sind“.

Seit gut zehn Jahren kümmert sie sich konsequent um die Fledermäuse der ortsansässigen Schloßkellerkolonie. Vor allem um die Aufzucht der Jungtiere, die sie, oft kaum ein paar Tage alt, verwaist, verletzt oder vollkommen ausgekühlt, aufsammelt. Und dann von April bis September hochpäppelt. Als Fledermausmutter hat sie sich einen Namen gemacht, sogar aus der fernen Umgebung werden ihr inzwischen kranke Tiere geschickt. Auch die versorgt sie medizinisch, pflegt sie gesund und quartiert sie manchmal als Dauergäste in ihrer bescheidenen Hütte ein.

Seltsam riecht es hier, kühl ist es, durch das einzige Fenster fällt wenig Licht in die Bausenweinsche Kellerbehausung. Hoch oben, auf dem Regal unter der Decke, ist aufgeregtes Fiepen zu hören. „Ach Lucky, laß doch bitte die Damen in Ruh!“ „Lucky“ ist WG-Genosse, genauso wie „die Damen“ Paulinchen und Schnürchen. Bei denen hat der Casanova gerade sein Glück versucht. Erfolglos – „dabei ist er doch so ein charmanter Kerl“ –, mit eingezogenem Schwanz duckt sich das Mausohrmännchen hinter den afrikanischen Krug, in dem seine Freundinnen ihr Nickerchen fortsetzen.

Mit dem Stolz einer erfahrenen Mutter erzählt die 39jährige Frau, präsentiert ihre Babys, die ihr das Wichtigste auf der Welt sind. „Morning, Mister T“, das Frühstück ist bereitet. Der allerdings will noch nicht so richtig, mault ein bißchen. So lange, bis er die dicken Mehlwürmer auf der Pinzette erspäht. Mit gesegnetem Appetit würgt er drei davon hinunter und breitet dann die Flügel für die Morgentoilette in der Wasserschüssel aus. Er hüstelt ein wenig, hat er einen Zug gekriegt? Nee, zügig schwingt er sich auf in die Lüfte der Einzimmerwohnung.

Mister T ist Anfänger, er flattert wie ein Weltmeister und vergißt komplett das Orten. Jäh endet der Flugversuch an der Fensterscheibe, wo das junge Mausohrmännchen in den nächsten Blumentopf rutscht.

Seine Pflegemutter eilt, tröstet, mitleidig steckt sie ihn zu Lili unters Hemd. Linke Brustseite, „die Tiere brauchen Herzschlaggeräusche“.

In Ohnmacht sei schon mal „ein Bankfräulein“ gefallen; während Ilona Bausenwein ihre Schützlinge versorgt, redet sie ohne Punkt und Komma. Wie hypnotisiert habe diese Frau von der Bank, auf ihren Ausschnitt gestarrt. Als zwei Enterhaken, zwei spitze Ohren und ein fürchterliches Gebiß zum Vorschein kamen, sei sie kreidebleich geworden und umgekippt. Das nächste Opfer war eine Kassiererin im Supermarkt. Die Vampirfrau weiß, daß sie in ihrer exzentrischen Tierliebe einem Punker mit Ratte in nichts nachsteht. Aber sie denkt nicht im Traum daran, ihre Spaziergänge in Begleitung leibhaftiger Draculas aufzugeben. Im Gegenteil. Nur so könne sie völlig aus der Luft gegriffene Vorurteile gegen die niedlichen Säugetierchen aus dem Weg räumen und ihrer Umgebung vermitteln, daß diese keineswegs blutrünstig, sondern sehr viel netter als ihr Ruf seien. „Es ist nicht zum Lachen, aber viele, sogar Tierärzte, glauben tatsächlich, daß Fledermäuse Blut saugen.“

Ilona Bausenwein missioniert, wann immer und wo immer möglich. Angefangen bei den Damen und Herren im Tübinger Rathaus. Wenn hier gewichtige Worte in der Ratssitzung von einem Piepsen aus dem Pulli der AL-Gemeinderätin begleitet werden, wundert sich kaum einer mehr. Daß sogar der ehemalige OB ihren Babys ab und zu übers Fell gestreichelt habe, hat ihr gefallen.

Mit zwei Käfigen voller Fledermäuse und einer selbstverfaßten Broschüre reist sie zum Anschauungsunterricht in Schulen an; in der Volkshochschule berichtet sie von ihrer Arbeit; und bei Vorträgen, zu denen sie als Fledermausexpertin inzwischen bundesweit eingeladen wird, erzählt sie von ihrem Leben mit den intelligenten Tieren, die in freier Wildbahn vom Aussterben bedroht sind.

Vor kurzem hat Ilona Bausenwein den Verein der Tübinger Fledermausfreunde gegründet, so steht sie nicht mehr ganz alleine auf verlorenem Posten. Denn mit finanzieller Unterstützung auf Landes- oder Bundesebene ist kaum zu rechnen, ihr Engagement für die kleinen Vampire fällt nicht unter Artenschutz, sondern gilt als Tierschutz, und der ist ehrenamtlich.

„Mmmh ... lecker!“ ruft Mama, pult schmierige Drohnenlarven aus Bienenwaben und zermanscht riesige Mehlwürmer. „Die werden per Paket mit der Post geliefert. Der Briefträger kennt uns gut, das eine oder andere Mehlwurmpaket ist auch schon in seinem Auto aufgegangen.“ Wer Berührungsängste hat, wird von der Expertin eines Besseren belehrt: „Schmeckt nicht schlecht, einfach sehr fett.“ Chili, die Pfledermaus mit Pfeffer im Hintern, treibt der Hungerneid, und sie setzt zur Bauchlandung an.

Zugegeben, süß sehen sie schon aus, die Großen Mausohren, die Zwergfledermäuse und die Abendsegler, mit ihrem weichen Fell und den durchsichtigen Flughäuten zwischen den langen Zehen, aber muß man deshalb gleich mit ihnen leben? „Was hätte ich denn anderes tun sollen?“ entgegnet die Tierschützerin vehement, Chili pinkelt ihr gerade über die Hand. Damals, vor fünfzehn Jahren, hat sie zwei Fledermausbabys auf ihrem Balkon gefunden. Das eine tot, das andere halb erfroren. Das Tote warf sie in den Mülleiner, das Lebende krallte sich am Busen fest. Dann rief sie bei den Biologen an der Uni an, fragte, was zu tun sei. „Kinderbrei“, lautete die Auskunft. Ilona Bausenwein kaufte Milupa-Banane und zählte fortan die Fledermäuse zu ihren Mitbewohnern: „Seitdem erwarten meine Freunde, daß ich mich irgendwann selbst kopfüber an die Duschstange hänge.“ Daß ihr Faible für „die niedlichsten Tiere der Welt“ zunächst ein wenig seltsam erscheinen mag, streitet die studierte Diplomgeographin nicht ab. 28 Babys hat sie im vergangenen Jahr aufgezogen. Mal sehen, wie viele es in diesem Jahr werden. Immerhin waren es schon einmal siebzig.

Was das heißt, kann man sich kaum vorstellen. Fledermausjunge wollen in den ersten drei Wochen alle anderthalb bis zwei Stunden gefüttert werden, auch nachts. Zweimal am Tag wollen sie baden, einmal wird der Käfig ausgemistet und werden saubere Schmusetücher aufgehängt. Mama Bausenwein organisiert Futter und bereitet es zu, ein kleiner Arzneischrank mit Medikamenten gegen die häufigsten Kinderkrankheiten wie Triefnase, Augenentzündungen, Ohren- oder Halsweh steht bereit. Fledermäuse aufziehen ist ein unbezahlter Full-time-Job. Wie sie ihre Brötchen verdient? – Mehr schlecht als recht, sagt sie, in der restlichen Zeit des Jahres als freiberufliche Geographin. Aber das sei schon okay. Und Beziehungen? Dazu mag sie sich nicht äußern. Es habe aber durchaus schon Leute gegeben, die vor den eifersüchtigen Angriffsflügen Luckys Reißaus genommen haben. Leid tut Ilona Bausenwein das nicht. Nur einmal, bei ihrem letztjährigen Geburtstag, habe ihr Verhältnis zu Lucky eine ernsthafte Krise erlebt. Weil sie sich partout eine Mokkasahnetorte in den Kopf gesetzt hatte. Der Mixer lief. Lucky schreckte auf, flog Richtung Lärmquelle, streckte neugierig den Hals und landete in der Mokkasahne. Die aber war nicht recht nach seinem Geschmack, also erhob er sich wieder mit schweren Flügeln, machte halt beim Gewürzbord, auf dem Bücherregal, der Lampe, dem Sofa ... Apropos Bücherregal, hier meldet sich Spax, der Glatzköpfige, mit einem feinen Zirpen von seinem Lieblingsplatz. Er war mit dem Kopf nach unten auf dem Weltatlas eingenickt. Jetzt rappelt er sich hoch, macht einige Flugversuche und bleibt dann an der schaukelnden Lampe hängen. Spax gehört zu den älteren Jungtieren, demnächst zieht er um, in die Freilflugvoliere. Gute zwölf Wochen alt ist er dann und lernt dort bei den sogenannten Fledermauskindergärtnerinnen die Bodenjagd. Ist das erst geschafft, kann er „ausgewildert“ werden. Ihre einstige Pflegemutter erkennen die Tiere der Schloßkellerkolonie aber oft selbst nach Jahren noch. Kommt Ilona Bausenwein bei Vorträgen und Führungen am Tübinger Schloßkeller vorbei, wird sie dort mit hohem Zirpen begrüßt. Nicht selten sucht der eine oder andere Nachtschwärmer dann seinen alten Lieblingsplatz auf: unterm T-Shirt, links, ganz nah beim Herzen.

Marianne Mösle, 39, lebt als freie Journalistin in Tübingen. Ihre Schwerpunkte: Kunst, Theater, Porträts