Ein Oscar bringt noch keine Touristen

Ein sizilianisches Nest will die Berühmtheit des „Nuovo Cinema Paradiso“ nutzen – mit bisher magerem Erfolg. Die Attraktion Unberührtheit kurbelt den Fremdenverkehr in Palazzo Adriano längst nicht an  ■   Von Werner Raith

Die japanische Touristengruppe sucht angestrengt in ihren Reiseführern: Da muß doch irgendwo der Palast sein. Was für ein Palast? Nun ja, einer, der es wert ist, angeschaut zu werden, jedenfalls steht er im Guide: Palazzo Adriano.

Nein, Palazzo ist in dem Städtchen auf knapp 700 Meter Meereshöhe keiner da, allenfalls eine kleine Burgruine auf dem Stadtberg. Berühmt ist Palazzo Adriano nicht wegen irgendeines Bauwerks: berühmt ist es wegen eines Films. Giuseppe Tornatore hat hier 1989 sein „Nuovo cinema Paradiso“ gedreht. 1990 bekam er dafür den „Oscar“.

Wer hierherkommt, will den Ort sehen, wo Pilippe Noiret in der Rolle des weisen Filmabspulers einen kleinen Jungen (Salvatore Cascio) mit der Welt des cineastischen Scheins bekannt macht und nach einem Brand im Kino erblindet, so daß nun umgekehrt der Junge den alten Mann führt. Palazzo Adriano mit seinen zweieinhalbtausend Einwohnern hofft seither, daß über den Fremdenverkehr etwas Wohlstand einkehrt: Das örtliche Fremdenverkehrsbüro betitelt sein Faltblatt in Anlehung an Tornatores Film „Das letzte Paradies“. Der Ort atmet Vergangenheit. Die Häuser sind meist aus unbehaunem Stein errichtet und unverputzt, die Straßen, die Gassen, die Piazze sind durchweg nur gepflastert, ohne Teer. Nur am Rand haben sich ein paar modernere Fertigbetonbauten in den Ort hineingefressen.

Die Piazza Umberto I, der einzige größere Platz im ganzen Ort, ist wesentlich größer als in vergleichbaren Gemeinden. Selbst wenn die täglich antuckernden Omnibusse mit Touristen hier parken, kann man sich ohne Hast und ohne Angst vor durchbrausenden Autos bewegen. Mehrmals am Tag verwandelt sich die Piazza: Frühmorgens starten hier die „Corrieri“, Busse, die die Menschen zur Arbeit, die Jugendlichen zur Schule bringen, danach wird sie zum Verkaufsort für die fliegenden Händler, die den Frauen Kleider, Töpfe, Waschpulver oder Obst verkaufen; zu Mittag schlurfen hier die Alten herum und warten, bis sie aus den Häusern Essensgeruch dringt. Am Nachmittag spendet der alte Brunnen Kühle für die Siesta, am Abend gibt die Piazza Raum für die Diskussionen über Fußball und Politik.

Beherrscht wird die Piazza von zwei mächtigen, nahe beieinanderstehenden und doch einander abweisenden Kirchen. Die eine, S. Maria Assunta, aus dem 16. Jahrhundert, dominiert eigenwillig gedrungen-massive Bauweise. Sie ist dem griechisch-orthodoxen Ritus gewidmet: Die Menschen hier stammen nahezu alle von Albanern ab, die im 15. und 16. Jahrhundert nach der Niederlage ihres Nationalhelden Skanderberg auf der Flucht vor den muslimischen Türken hierherkamen und von den süditalienischen Herrschern Siedlungsrecht erhielten. Die andere Kirche, S. Maria del Lume, ist römisch-katholisch und steht in seltsam unbehaglicher Position da: nicht in der „klassischen“ Ost-West-Ausrichtung, sondern eher nach Süden weisend. Einst war dies nur eine kleine Kapelle für die wenigen Römisch-Katholischen am Ort gewesen, doch dann mußte sie auf Anweisung der eifersüchtigen Bischöfe von Agrigent vergrößert werden, und da gab es Platz nur, wenn man nach Süden baute.

Statt Ladengeschäften oder Bars, wie überall sonst in Italien, residiert in jedem zweiten Gebäude der Piazza ein Verein oder ein kultureller Kreis: Circolo Unione, Circolo Skanderberg, Polisportivo Adrianese, Associazione nazionale combattenti, Associazione nazionale caccia. Das soziale Leben steht hier im Mittelpunkt, nicht der Kommerz. Eine Einstellung, die auch die Stadtväter weiterpflegen: Im Rathaus wurde das Erdgeschoß der „Banda musicale“ zugeteilt, dem Stadtorchester, das mit dem Maestro Francesco Alessi einen hauptamtlichen Dirigenten bekommen hat. Und der übt mit Fernfahrern und Schülern, Krankenpflegern und Rentnern gediegene Chor- und Orchesterstücke von Lucia di Lammermoor oder „La Traviata“ ein.

Daß Giuseppe Tornatore den Ort für seinen Film ausgewählt hat, hängt einerseits mit der „Unberührtheit“ des Platzes zusammen. Andererseits hatte der Stadtkern den Vorteil, nach einer Seite hin „offen“ zu sein – und in diese Öffnung konnte Tornatore für die Zeit der Filmarbeiten sein Kleinstadtkino „Paradiso“ stellen und am Ende für den Film sprengen. Nun stecken die japanischen Touristen ihren Fotoapparat enttäuscht weg, weil es das „Paradiso“ gar nicht mehr gibt. Nur eine Keramikplakette am Ristorante del Viale und eine Fotoausstellung im Rathaus erinnern daran, wie der Platz in jenen Wochen aussah.

Wie das Städtchen diese aller Moderne trotzende Unberührtheit erhalten hat, grenzt fast an ein Wunder. Tatsächlich ist Palazzo Adriano geradezu umstellt von Orten, die es zu eher trauriger Berühmtheit gebracht haben: Lercara Friddi, Heimat des in den Vereinigten Staaten berüchtig gewordenen Gangsters Lucky Luciano; Corleone, Stammplatz der grausamsten Cosa-Nostra-Familien Siziliens; Prizzi, dessen Namen John Houston nicht zufällig für den blutrünstigen Clan in „Die Ehre der Prizzi“ ausgewählt hat. Und wo es wenig Mafia gibt, ist alles mit Fabriken oder phantasielosen Fertigbauten zerschandelt.

„Was will denn die Mafia hier holen?“ fragt der Kultur- und Tourismusdezernent Andrea Mistretta. „Wir haben weder Industrie noch Handwerk, ja nicht einmal der Bauernstand ist hier zu Hause, die felsige Umgebung läßt kaum etwas gedeihen. Ein paar Schäfer haben ihr Auskommen, ansonsten müssen sich die Menschen hier anderwärts verdingen, in Caccamo, Termini Imerese, Palermo, Agrigent.“ Am Ort gibt lediglich das Krankenhaus 140 Menschen Auskommen, und neuerdings hat auch die Forstamtsstelle aufgerüstet, seit ihr auch der Schutz der Umwelt übertragen wurde. Ab und zu fahren seltsame Gefährte durch die Stadt – umgebaute Kleinlaster mit deutschen Kennzeichen; eine Firma aus Hannover stellt Untersuchungen über Erdölvorkommen in der Gegend an; auch da haben einige Arbeit gefunden.

Der Wohlstand im Gefolge des Films wollte aber nicht so recht kommen. Und so haben die Leute aus Palazzo Adriano nachgedacht und herausgefunden, daß man sich dazu wohl noch anderes einfallen lassen muß. „Wir haben gerade mal ein Hotel“, sagt Illuminata Profeta, die seit einiger Zeit eine Kooperative namens T.R.I.P.S. zur Förderung touristischer und sozialer Initiativen am Ort leitet, „mit nicht mal zwei Dutzend Betten; wir haben ein einziges Restaurant, es gibt eine kleine Bank, aber keinen Bargeldautomaten, die Straßenverbindungen sind holprig und kurvig“. Wer ein Hotelzimmer bestellen will, muß zur Mittags- oder Abendessenzeit anrufen, weil sonst niemand abhebt. An Geschäften ist nur das Allernotwendigste vorhanden: ein paar Lebensmittelläden, eine Apotheke, ein Schreibwarenladen, Tabakläden, wo man auch Zeitungen kaufen kann. Kein Wunder, daß die meisten Reiseunternehmen hier gerade mal zwanzig Minuten Foto- und Toilettenpause vorsehen: „Gekauft wird nichts – was hätten wir denn auch anzubieten?“ sagt Illuminata. Kein Andenkenladen zieht die Aufmerksamkeit auf sich, kein lokaler Weinname reizt zum Kauf. So will die Promotion-Beauftragte ihrem Namen (er bedeutet „aufgeklärte Prophetin“) Ehre machen und in die Zukunft planen: „Wir bauen Einrichtungen, die die Menschen zum Verweilen einladen sollen.“ Bald einsatzfähig ist ein Reitstall, dessen Pferde und Mulis auch für Bergtouren und Exkursionen in die an steinzeitlichen Relikten reiche Umgebung genutzt werden sollen – und wer nicht reiten will, bekommt ein Mountainbike geliehen. Ein Museum ist in Planung und soll neben urzeitlichen Fossilienfunden und prähistorischen Werkzeugen auch die Filmarbeiten Tornatores dokumentieren.

„Fremdenverkehr“, sagt Domenico von der Espressobar am Rathaus, „kann man gar nicht genug haben.“ Aber wenn nicht, macht es auch nichts. „Wir haben's so ein halbes Jahrtausend lang geschafft“, sagt einer der Arbeiter, die derzeit bei der Petroleumsuche mithelfen. „unsere Kinder und Enkel werden's auch schaffen.“

Philosophen, so scheint es, sind sie alle hier. An der Sonnenuhr, die 1878 an der Albanischen Kirche angebracht wurde, prangt der Spruch „A pèrdere tempo a chi più sa più spiace“ – Zeitverlieren verdrießt um so mehr, je wissender man ist.