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: ... und ab die Post!

■ Briefe und Briefwechsel, nicht nur von Goethe: Zeugnisse eines aussterbenden Genres

In jenen fernen Zeiten ohne Telekommunikation und digitalen Datentransfer, ohne Fax und E-Mail, da Briefe noch aus Papier und Tinte bestanden, waren Briefwechsel durchaus identitätsstiftende Veranstaltungen. Im Goethejahr fehlt es naturgemäß nicht an einschlägigen Taschenbuch-Produktionen, als da wären erstens Johann Caspar Goethes „Reise durch Italien im Jahre 1740“. Der Vater des „richtigen“ Goethe legte insofern einen gewissen literarischen Ehrgeiz an den Tag, als er die sterbenslangweiligen Eindrücke seiner Reise als Briefe an einen fiktiven Adressaten strukturierte. Für Goetheforscher sind sie vielleicht Pflichtlektüre, für Lustleser eher qualvoll.

Überflüssig wie ein Herrenhandtäschchen sind auch die beiden Bücher mit ausgewählten Briefen Goethes an diverse Damen. Zum einen „Lieber Engel, ich bin ganz dein!“, zum anderen „Du Einzige, die ich so lieben kann ...“. Wer nicht schon beim Klang dieser Titel ahnt, woher hier das spekulative Lüftchen säuselt, dem ist nicht zu helfen. Natürlich finden sich hübsche Sentenzen wie diese: „Eine Korrespondenz die dauern soll muß nicht Zug für Zug gehen; man schicke doch ja ein Blatt nach, um irgend ein Stockendes flott zu machen. Und so fortan!“

Gelegentlich mal ein Blatt – damit war es für Balzac, der ein manischer Vielschreiber war, natürlich nicht getan. Schon gar nicht, als ihn 1832 der Brief einer Unbekannten erreicht. Die darin enthaltenen Komplimente schmeicheln dem eitlen Aufsteiger Balzac gewaltig, und es entwickelt sich ein überaus intensiver Briefwechsel. Die Unbekannte entpuppt sich als ukrainische Gräfin. Aus der Brieffreundschaft wird bald ein Verhältnis, und als der Mann der Gräfin stirbt, heiratet Balzac die Dame sogar. Erhalten sind nur Balzacs Briefe, da er die der Gräfin verbrannte. Aus seinen aber läßt sich ablesen, wie der stets stoffhungrige Dichter diese Liebe auf Distanz als Inspirationsquelle um- und auszuwerten wußte.

„Du hast gesagt, ich wäre eine Närrin, wenn ich Dir nicht schreiben würde, wenn mein Federhalter sich danach windet, es zu tun. Nun, er windet sich jetzt.“ Das schrieb Vita Sackville-West an Virginia Woolf, und wir ahnen schon, daß sich windende Federhalter für einen ziemlich heißgelaufenen Briefwechsel sprechen, der sich mit unterschiedlicher Intensität über 20 Jahre erstreckte. Die beiden verband ein kompliziertes Liebesverhältnis, aber auch die Literatur. Die Kommentare, die Vita Sackville-West zu Virginia Woolfs Werken abgab, dürfte deren Produktion jedenfalls beflügelt und beeinflußt haben.

Das Gleiche gilt für Brigitte Reimann und Christa Wolf, deren Briefwechsel zwischen 1964 und 1973 allerdings sehr viel unterkühlter, gelegentlich fast geflüstert wirkt. Für diese Zurückhaltung gibt es „real existierende“ Gründe, die in einem Brief Christa Wolfs einmal unvermutet offen ausgesprochen werden: „Im übrigen lebe ich sehr gerne und, ich glaube, auf meine Weise sehr glücklich. Weiß auch, daß Leute mich gerne haben, daß ich da sogar bevorzugt bin (...). Also ist's undankbar, Mißtrauen gegen Leute zu äußern, und eigentlich richtete sich der Satz vom ,Verlaß' auf den Briefpartner ja auch gar nicht gegen den Briefpartner – den kann man sich ja aussuchen –, sondern gegen die Briefzensur, die man sich nicht aussuchen kann.“

Der Korrespondent war ursprünglich jener Journalist, der seine Berichte per Brief an die Zeitung sandte, deren Mitarbeiter er war. Der englische Romancier Julian Barnes war von 1990 bis 1995 ein Auslandskorrespondent im eigenen Lande, sandte er doch seine „Briefe aus London“ im Auftrag des Magazins New Yorker in die USA. „Das bedeutete eine handwerkliche Herausforderung, die sich mir im Journalismus bislang noch nicht gestellt hatte. Meine Leserschaft würde hoch gebildet sein und jedes einzelne Wort verstehen, doch die von mir geschilderten Zustände und Ereignisse würden ihr kulturell vielleicht so fremd vorkommen, als spräche ich vom alten Rom.“

Dieser Fremdheit hat der überaus witzige Barnes natürlich kräftig nachgeholfen, indem er die Denk- und Merkwürdigkeiten seiner Heimat aus einem ethnologischen Blickwinkel heraus anging. Als besonders scharfsinnig haben sich übrigens Julian Barnes' Prognosen über Aufstieg, Anspruch und Wirklichkeit Tony Blairs erwiesen. „Eines der bleibenden Faszinosa – und der ewig wiederkehrenden Betrugsmanöver – politischer Arbeit besteht in dem Widerspruch zwischen den Auf-in-den-Kampf-Parolen und der nachfolgenden Ankündigung, daß, leider Gottes, kein Geld für Lanzen und Brustpanzer da war und es übrigens statt zu einem Pferd auch nur zu einem Maultier gelangt hat.“

Klaus Modick

Johann Caspar Goethe: „Reise durch Italien im Jahre 1740“. dtv

Angelika Maass (Hg.): „Lieber Engel, ich bin ganz dein! Goethes schönste Briefe an Frauen“. insel tb

Johann Wolfgang von Goethe: „Du Einzige, die ich so lieben kann ...“ Liebesbriefe. Diana TB

Honoré de Balzac: „Briefe an die Fremde“. Fischer TB Vita Sackville-West: „Geliebtes Wesen ...“ Briefe an Virginia Woolf. Fischer TB

Brigitte Reimann/Christa Wolf: „Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964 – 1973“. Aufbau TB

Julian Barnes: „Briefe aus London“. rororo