Wahrgewordener 68er-Traum

Die Ufa-Fabrik, Berlins bekanntestes alternatives Kulturzentrum und Kommune mit 6 Millionen Jahresumsatz, wird heute 20 Jahre alt  ■ Von Barbara
Bollwahn de Paez Casanova

Sie sind die größte Familie Europas, die sich je inmitten einer Großstadt breitgemacht hat: 40 Erwachsene, 10 Kinder und Jugendliche, 2 Wollschweine, 3 Ponys, 1 Schildkröte, 4 Enten, 1 Ganter, 8 Hühner, 11 Kaninchen, 6 Meerschweinchen und 2 Frettchen. Sie alle leben auf einer Fläche von 18.000 Quadratmeter in Berlin. Ihr Zuhause ist Tempelhof, ein Bezirk im Westteil der Stadt, der eher wegweisend in Sachen Reihenhaussiedlungen als ein alternativer Wegweiser ist.

Das älteste Familienmitglied, der 93jährige Walter, der erst mit 78 Jahren einzog, ist kürzlich gestorben. Nur um wenige Tage hat der frühere taz-Buchhalter das bisher größte Fest seines Zuhauses, das zwanzigjährige Jubiläum der Berliner Ufa-Fabrik, verfehlt.

Ufa-Fabrik, das steht für eine alternative Kommune, die mittlerweile weit über Deutschland hinaus bekannt ist und sich zu einem internationalen Kulturzentrum entwickelt hat. Auf dem Gelände der ehemaligen UFA Film Kopierwerke, die heute vor zwanzig Jahren besetzt oder, wie ehemalige Aktivisten sagen, „friedlich in Betrieb genommen“ wurde, hat sich ein gesellschaftliches Biotop der besonderen Art entwickelt. Zwei Theatersäle, ein Varietésalon und das Ufa-Kino bieten Raum für eigene Produktionen und andere Künstler. Es gibt eine Ökobäckerei, die außer der Nachbarschaft auch die taz mit Körnerbrot versorgt, eine Freie Schule, ein Café mit Sommergarten und FCKW-freier Kühlung, die größte Solaranlage der Stadt, zwei Blockheizkraftwerke, 4.000 Quadratmeter Gründächer, einen zentralen Regenwasserspeicher zur Bewässerung der Grünflächen und zur Spülung der Toiletten, einen Bauernhof, den legendären Ufa-Circus und eine Kinder-Circusschule. Dann sind da noch die Wohneinheiten mit gemeinsamer Küche und Bad der langjährigen Kommunarden, die über lange Anfahrtswege zur Arbeit nicht klagen dürften. Sie arbeiten alle hier.

Eine „Insel der Seligen“ will die Ufa-Fabrik nicht sein. Dafür ist das Gelände auch zu sehr mittendrin in der Großstadt. Ein Nachbarschafts- und Selbsthilfe-Zentrum sorgt zudem für den entsprechenden Zulauf von draußen. Das Zentrum bietet vom Percussionstudio über Qi Gong für Senioren bis zur „Schrei-Baby-Ambulanz“ so ziemlich alles, wovon Nachbars Herz bisher vielleicht nicht einmal zu träumen wagte.

Nachdem die Ufa-Fabrik die ersten Jahre ohne Subventionen überlebt hat und taz-Anzeigen gerüchteweise mit Dope vergütete, gehört das Kulturzentrum schon längst zum kulturellen Establishment der Stadt. Nicht nur der Jasmin im Garten hat sich prächtig entwickelt. Mittlerweile macht die Ufa-Fabrik sechs Millionen Mark Jahresumsatz, beschäftigt 190 Mitarbeiter und lockt jährlich etwa 400.000 Besucher an. Für Einzelentscheidungen braucht man nicht mehr die Zustimmung aller, die Anzahl der Plena hat sich demzufolge auf ein erträgliches Maß reduziert, Einheitslohn gibt es auch schon lange nicht mehr, und nur noch eine Mahlzeit am Tag wird, zubereitet von einem professionellen Koch, gemeinsam eingenommen.

Der bekannteste Kommunarde oder, besser gesagt, der „Regierende Bürgermeister“ der Ufa-Fabrik ist Juppy, der seinen bürgerlichen Namen Joseph Becher gar nicht gerne liest, weil er eben nur der Juppy ist. Der 50jährige, der aus der Landfreak-Szene um Trier stammt und seit dem Tod von Walter nun zum Zweitältesten aufgestiegen ist, hat nach 20 Jahren endgültig erkannt, „daß Demokratie ohne aktive Kultur nicht möglich ist“. Betrachtet er die gesellschaftlichen Entwicklungen, sieht er keine andere Lösung, „als sich zusammenzutun, um sich gegenseitig zu stärken“. Treu geblieben ist er auch seinem Outfit. Die Markenzeichen: schwarzer Hut und rötlichblonde schulterlange Haare. Einzige Neuerung sind ein Handy, ohne das er die vielen Aktivitäten nicht mehr koordinieren könnte, und die Lust an Gartenarbeit, die er früher aufs schärfste abgelehnt hat.

Es war ein langer Weg, bis sich Juppy „Multikultur Impresario“ nannte, wie es jetzt auf seiner Visitenkarte steht. Nach einigen Semestern Innenarchitektur an der Hochschule der Künste gründete er 1972 in einer Ladenwohnung in Charlottenburg seine erste Kommune. Wenige Jahre später stand er staunend vorm Reichstag und verfolgte das Programm von „Zauberern mit hochpolitischen Supertexten“ und der „sensationellen“ Band „Teller bunte Knete“ zum ersten Berliner Umweltfestival. „So was machen wir auch, zehn Minuten Weltklasse kriegen wir auch hin“, sagte er sich. Am 1. April 1978 trat Juppy, der damals nichts anderes als reden konnte, zum ersten Mal als Conferencier mit seinen Hunden „Toni Turnschuh“ und „Max Müller“ auf. Später war „Bobby Fischer“ sein ständiger Begleiter im Zirkusprogramm. Daß die Kommune den Sprung ins Privatfernsehen geschafft hat, ist diesem Hund zu verdanken. Er stand für die RTL-Soap-opera „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ vor der Kamera. Als er vor einigen Jahren starb, widmete ihm die SFB-Abendschau sogar einen eigenen Beitrag. Jetzt wird Juppy von „Otto“ begleitet, einer Mischung aus Pudel und irgendwas.

Besonders stolz ist Juppy auf die Freie Schule der Ufa-Fabrik, das einzige staatlich anerkannte Projekt in Berlin, wo Kinder überhaupt nicht beurteilt werden. In der Schule, wo alle Räume Lehrerzimmer, Bastelwerkstatt und Klassenraum zugleich sind, lernen derzeit 47 Schüler bis zur 6. Klasse. „Da steckt noch Liebe drin“, beschreibt Juppy den Umgang mit den Kindern, die lediglich „Verabredungen“ mit den Lehrern treffen. „Die haben eine Garantie, super im Leben weiterzukommen“.

Daß diese Garantie keine Garantie hat, zeigt das Beispiel der 25jährigen Nicole, die bis 1987 die Freie Schule besuchte. Sie erinnert sich zwar gern an die Jahre „mit vielen Spielen und Freiheiten“. Doch jetzt weiß sie, daß sie „mehr Strenge“ gebraucht hätte. „Die Lehrer müßten mehr bei dem Lernstoff hinterher sein und Tests mit Noten machen, damit man weiß, wo man sich verbessern muß.“ Die tabulosen Zeiten schienen ihr später nicht nicht besonders hilfreich gewesen zu sein. Als sie nach einigen ABM-Stellen in Krankenhäusern und einer abgebrochenen Schneiderlehre mit 22 Jahren schwanger wurde und Zwillinge bekam, hat es „Klick im Kopf“ gemacht, erzählt sie. Plötzlich sei ihr klargeworden, daß sie einen Job haben will, bei dem es nicht nur um ABM und Geld geht. Bei ihrer Suche nach einer „Arbeit mit Spaß“ ist sie schließlich dort gelandet, wo ihr allzu viele Freiheiten gelassen wurden: in der Ufa-Fabrik. Über ein kommunales Förderprogramm für junge Langzeitarbeitslose hat sie einen Zweijahresvertrag als Assistentin im Pressebüro ergattert. Wenn der ausläuft, steht da wieder ein großes Fragezeichen. Doch eins weiß sie: Wenn die Schule so bleibt, wie sie ist, schickt sie ihre Zwillinge nicht dorthin.

Ganz ohne Mißtöne kommt „Terra Brasilis“ aus, die Sambaband der Ufa-Fabrik, in der 18 Musiker aus sieben Ländern spielen. Die Gruppe, die etwa einhundert Auftritte pro Jahr hat, hat einiges aufzuweisen: Sie war die erste westliche Band, die live auf dem Roten Platz in Moskau auftrat. Wim Wenders' Weltpremiere „Bis ans Ende der Welt“ begleiteten sie musikalisch, und auf einem Sambafestival vor fünf Jahren wurden sie zur besten deutschen Sambagruppe gewählt. Die Professionalisierung der Ufa-Fabrik ist auch an den Musikern nicht spurlos vorüber gegangen. So werden sie längst zu Fußballspielen, Coca-Cola-Events oder Automessen gebucht.

Für den Gründer der Sambaband, Manni Spaniol, ist die Ufa-Fabrik die „Umsetzung von Träumen aus den 68ern und Anfang der 70er Jahre“, die sich einer Anpassung an die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht verweigern kann. „Es ist im Grunde der Traum von einem Dorf mit Hütten inmitten einer Großstadt mit regem Austausch mit dem Rest der Welt“, sagt der 44jährige, dessen mittlerweile 15jähriger Sohn auch in der Kommune lebt. An Ausstieg hat er nie gedacht. „Ich hatte hier genug Möglichkeiten, mich zu verändern.“ Das Tüpfelchen auf dem i wäre eine Reise nach Brasilien. Es gab zwar schon mehrere Einladungen, doch es fehlte immer am Fluggeld.

Auch Juppy hat noch Träume: Eine „Zweigstelle“ der Ufa-Fabrik in Portugal, das wär's. Und eine Tour mit allen Eigenproduktionen.