Nicht Kinder töten, um andere Kinder zu retten

■ Kanadische Professoren fordern Den Haag zu Ermittlungen gegen die Nato-Staaten auf. Die Bombardierungen ziviler Ziele in Serbien verstoßen gegen Genfer Konvention

Während der Krieg sich dem Ende zuzuneigen scheint, könnte der Kosovo-Konflikt für einige Beteiligte ein strafrechtliches Nachspiel haben. Bekannt ist, daß am UN-Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien Anklage gegen Serbiens Präsidenten Slobodan Miloevic erhoben wurde. Aber auch die politische Spitze der Nato könnte ins Blickfeld von Chefanklägerin Louise Arbour geraten.

Kanadische ProfessorInnen wollen erreichen, daß in Den Haag auch gegen insgesamt 67 Verantwortliche der Nato-Staaten (Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsminister sowie Nato-Funktionäre) wegen Mord und anderen Verbrechen ermittelt wird.

„Man kann nicht Frauen und Kinder in Belgrad töten, in der theoretischen Hoffnung, damit das Leben von Frauen und Kindern in Pritina zu retten“, betont Professor Michael Mandel, der Sprecher der kanadischen ProfessorInnen. Sie werfen der Nato vor, einen illegalen Krieg (ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates) zu führen. Ihr Hauptvorwurf aber zielt auf die Auswahl der Ziele. „Selbst in einem legalen Krieg dürfen keine zivilen Ziele bombardiert werden“, so Mandel unter Berufung auf die Genfer Konvention.

Dem Schreiben an Louise Arbour ist eine von der jugoslawischen Regierung stammende Liste mit zivilen Opfern des Krieges und zerstörten Fabriken, Kliniken, Medieneinrichtungen beigefügt.

Eingesetzt wurde der Strafgerichtshof 1993 durch einen Beschluß des UNO-Sicherheitsrats. Er soll alle Verletzungen des humanitären Völkerrechts verfolgen und aburteilen, die seit 1991 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens stattfanden. Im Prinzip können dabei auch Vorwürfe gegen die Nato untersucht werden.

Michael Mandel und einige Mitstreiter lehren in Toronto an der Osgoode Hall Law School, wo nach ihren Angaben einst auch Louise Arbour, die Chefanklägerin in Den Haag, tätig war. Die kanadische Eingabe, die von Anfang Mai stammt, wird inzwischen auch von der amerikanischen Juristenvereinigung unterstützt. Am Gerichtshofs in Den Haag hielt man sich bedeckt. „Wir äußern uns grundsätzlich nicht dazu, ob und gegen wen Ermittlungen geführt werden“, sagte eine Sprecherin.

Die Anklägerin Louise Arbour ist formal völlig unabhängig. Um ihre Anklagen gegen serbische, kroatische und bosnische Beschuldigte mit Beweismaterial unterlegen zu können, ist sie aber auf die Kooperation der Nato-Staaten angewiesen. Schon deshalb wird ein Vorgehen gegen die Nato-Verantwortlichen vermutlich nicht opportun sein.

Der serbische Oppositionelle Vojin Dimitrijevic, Direktor des Menschenrechtszentrums in Belgrad, glaubt jedoch, daß die Autorität des Strafgerichtshofs in Serbien davon abhängt, daß nicht nur in eine Richtung ermittelt wird.

Allerdings wirft auch die Rechtslage viele Fragen auf. „Ob ein Fernsehsender Teil der Kriegsinfrastruktur ist, kann man wohl nicht leicht beantworten“, gibt Thilo Mahraun vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Völkerrecht zu bedenken. Die Nato jedenfalls behauptet, daß sie nur militärische Ziele angegriffen habe. Für unbeabsichtigte Fehler, wie die Bombardierung der chinesischen Botschaft, ist das Tribunal in Den Haag im übrigen nicht zuständig. Christian Rath