Die Angst im Reisegepäck

■ Eine Woche auf den Spuren der eigenen Geschichte: Jüdische ehemalige Hamburger besuchen die Stadt ihrer Kindheit begleitet von Kay Dohnke

Abschiede, entschlossen.

Hamburg, ein Abend im November. Eine Familie steigt in den Zug nach Süden. Am nächsten Tag ein letzter Anruf daheim; in der Nacht hat die Gestapo die Wohnung verwüstet, die Haushälterin mißhandelt. Es ist der 10. November 1938. Schauplatzwechsel. Das amerikanische Konsulat. Ein Mann steht mit seinen Kindern am Fenster und droht: Sie werden sich hinausstürzen, wenn er heute keine Visa bekommt. Wenig später macht sich auch diese Familie auf den Weg, nach Frankreich – zum Schiff.

Noch eine Hamburger Familie in einem Zug. In Aachen. Die Papiere stimmen, doch der Vater hat zuviel Geld dabei. Sollen die Grenzbeamten es doch nehmen. Die aber lehnen ab; sie seien, so ihr süffisanter Hinweis, nicht dazu befugt. Erst als der Zug schon losrollt, lassen sie den Mann im allerletzten Moment hinter seiner Familie herrennen. Ohne das Geld. Abschied von Hamburg, damals: beschimpft, bedroht, beraubt. Abschied oftmals in letzter Stunde, auf Nimmerwiedersehen – jüdische Bürger Hamburgs.

Aber für manche gibt es doch ein Wiedersehen, unerwartet, Jahrzehnte später. Jetzt sind sie jüdische ehemalige Bürger Hamburgs, die den Schritt wagen in die ferne Gegenwart des Landes und der Stadt, wo sie so bittere Erfahrungen gemacht haben. Sie kommen aus aller Welt, eingeladen vom Senat, eine Woche lang zu Gast in der eigenen Geschichte. Seit 1966 werden wieder Kontakte zu diesen Vertriebenen aufgenommen, zu 2.500 Menschen inzwischen, von denen seit 1972 jedes Jahr etwa 100 die Reise ermöglicht wird. Eine Reise in die Vergangenheit, zurück in jene Stadt, die einmal ihre Heimat war. Zurück an die Elbe, zurück zu ihren Wurzeln.

Wiedersehen, zögernd.

Sie müssen sich oft lange gedulden, bevor sie endlich mit dem Besuch an der Reihe sind. Die Wartedauer richtet sich nach Lebensjahren und körperlicher Verfassung. Wer damals als Kind gehen mußte, ist heute selber alt. Und auf einmal ist die Einladung doch da, wird der Termin konkret. Erst kurz vor der Reise – dafür aber unvermeidlich – stellt sich die Frage, ob sie wirklich zu diesem besonderen Besuch bereit sind. Zweifel regen sich, Unsicherheit, Angst.

Sieben Tage in der Stadt, in der ihr Leben eine entscheidende Wende genommen hat, in der sie Familie, Freunde, Wohnsitz, Eigentum, Zukunftsperspektiven verloren haben. Und später, als Folge, dann auch ihre Muttersprache. Sieben Tage in der Stadt, die sie seit oft 60 Jahren nicht gesehen haben, die früher zu besuchen stets Mut oder Kraft oder Geld fehlte. Eine Woche Berührung mit der eigenen Geschichte, Suche nach Spuren und auch Wiedererleben von Verlusten.

Zögern. Nachdenken. Zurückweichen. Wie, wenn man besser doch nicht ginge? Charlotte Rosen aus New York: „Zwei Monate vor der Reise habe ich daran gedacht. Zwei Wochen lang hatte ich Zweifel. Aber dann habe ich mir gesagt: Ich gehe. Ich fühlte, ich brauchte es.“

Betty Strassmann aus London: „Ich hatte schon jemand, der mit mir geht. Das ist schon besser als allein zu kommen; man wird sehr feige. Man ist erst sehr mißtrauisch. Das gebrannte Kind scheut das Feuer, auch wenn ich kein Konzentrationslager oder anything mitgemacht habe und auch meine Familie nicht. Ich weiß wenigstens, wo meine Eltern beerdigt sind.“

Max-Erwin Jotkowitz aus Atlanta: „Ich wollte nicht nach Deutschland kommen. Obwohl ich von '45 bis '48 in Deutschland stationiert war als Soldat, war es eine andere Sache, damals als Besatzungstruppe hier zu sein. Als Besucher und sozusagen auf Urlaub nach Deutschland zu kommen ist etwas ganz anderes. Ich habe genauso wie jeder andere Angst gehabt, wieder nach Deutschland zu kommen. Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht: Warum nach Deutschland gehen, es gibt so viele andere Orte zu besuchen. Mein Entschluß war dann, es zu versuchen und zu sehen, wie es ist. Manchmal ist das besser, auch wenn man nicht will.“

Straßen. Häuser.

Hamburg, weltoffen. Als Senatsgäste werden die jüdischen ehemaligen Einwohner intensiv betreut. Hafen-, Fleet-, Stadtrundfahrt zeigen die neue, ihnen unbekannte Gegenwart. Hamburg, zweifach – nur für die Besucher zu erkennen: das damalige im heutigen, so fremd ist diese Stadt und doch überraschend vertraut. Und unausweichlich werden neben den frühen und oft schönen auch bittere Erinnerungen wach. Jeder Straßenzug und jedes Haus, erzählt Charlotte Rosen, kann Gefühle wecken, die man überwunden oder vergessen glaubte. Und sie kommen spontan, so daß man sich nicht vorher darauf einstellen kann:

„Sie kamen schon auf dem Weg vom Flughafen; ich erkannte meine Schule, niemand brauchte es mir zu sagen. Es brachte mich wieder mit so vielem in Berührung, und es brachte große Trauer über all die Leute, die nicht so viel Glück hatten wie ich, so viele. Das fühlt und sieht man überall. Das war ungeheuer schwer. Diese Gefühle tun weh – aber sie sind ein Teil von mir.“

Hamburg, vertraut: „Berührt hat mich, daß ich noch die ganze Stadt – die innere Stadt zum Beispiel – die Straßen wiedererkannte, mich überhaupt nicht fremd fühlte. Obwohl da viele Neubauten waren. Wenn ich die Kirchen angucke und die Stadt, alles ist genauso geblieben für mich als alter Hamburger, wie damals, als ich hier gewohnt habe. Es hat sich nicht viel verändert für mich. Wir haben oft zuhause über Hamburg gesprochen. Wenn eine bestimmte Straße, ein bestimmter Bezirk erwähnt wurde, wir wußten, wo das war. Aber das ist nicht dasselbe Gefühl, als wenn man zurückkommt und die Straßen wiedersieht. Und es nimmt einem eine Last, das wieder zu sehen.“

'Für mich als alter Hamburger' – zuerst klingt diese Feststellung eines fast siebzigjährigen Mannes nicht ungewöhnlich. Doch Max-Erwin Jotkowitz hat Deutschland 1937 verlassen. Mit elf Jahren.

Spuren verloren. Spuren gefunden.

Hamburg, wiedergefunden: Wohl niemand läßt die Gelegenheit ungenutzt, auf eigene Faust in die ehemalige Nachbarschaft zurückzukehren und dort die Wege der Kindheit noch einmal zu gehen. So es sie denn noch immer gibt, denn zuweilen bleibt diese Suche ohne Erfolg. Die schweren Kriegszerstörungen haben ganze Stadtteile grundlegend verändert – ein neuer und enttäuschender Verlust persönlicher Spuren. Wer jedoch das Elternhaus wiedersieht, ist tief berührt. An den vertrautesten Orten spiegelt sich Geschichte in der Gegenwart wider. Lilli Greenebaum aus Chicago:

„Ich wollte sehen, ich wollte wirklich noch einmal sehen: Wie sah es aus, an was erinnere ich mich, wie war es wirklich, wie sah die Straße wirklich aus. Wir hatten mein Haus gesucht. Als wir dort ankamen, erkannte ich das Äußere des Hauses nicht, aber den Eingang. Ich erinnerte mich, daß kleine blaue und weiße Kachelmuster dort waren. Da kam gerade eine Frau, und sie hat uns gefragt, ob wir ins Haus reingehen wollten. Drinnen habe ich die Küche gesehen. Und da sehe ich auf einmal, daß dies unser Eßzimmer war. An Chanukka, das erinnere ich noch, haben wir immer um den Tisch gestanden. Meine Mutter hat eine Schallplatte angemacht, die Leuchter aufgestellt, rechts waren die Türen geöffnet, und da lagen die kleinen Geschenke. Und auf einmal, wie ich da drin stehe im Zimmer, da habe ich angefangen zu weinen. Ich hatte meinem Mann immer gesagt, ich weiß nicht, wo dieses Zimmer war, ob das schon in Amerika oder noch in Deutschland war. Und wie ich da stand, wußte ich, nein, das war hier, hier erinnere ich mich. Die Tränen kamen einfach.“

Bilder. Letzte Spuren.

Eine Frau findet ihr eigenes Heft in der Vitrine. Eine andere Frau entdeckt sich selbst auf einem Bild: Sommer 1939. Kindertransport nach England. Sie mitten auf Deck eines Schiffes, verstört, damals und heute wieder. Karolinenstraße, Gedenkstätte Israelitische Töchterschule, wichtigste Station des Besuchsprogrammes. Hier haben fast alle Unterricht gehabt, nach Auflösung der Talmud Tora-Schule 1939 auch die Jungen. Dieser Ort bleibt unveränderlich, bleibt das Hamburg damals. Charlotte Rosen:

„In der jüdischen Schule, zu der ich ging, fingen die Klassen erst zu wachsen an; Kinder kamen von anderen öffentlichen Schulen. Und dann wurden sie wieder kleiner, als die Menschen in alle Richtungen fortgingen, wo immer sie hingehen konnten.“

„Was mich emotional sehr angerührt hat, war, wie wir in die Karolinenstraße gingen, und die einzigen zwei Bilder von der Talmud Tora-Schule dort waren ausgerechnet von meiner alten Klasse, mit meinem Schullehrer. Und das hat mich sehr ergriffen, denn obwohl dieses von meinem Lehrer aufgenomme Klassenbild, schon nach meiner Auswanderung gemacht wurde – vielleicht sechs Monate danach – kannte ich doch die Jungs. Und die Hälfte davon sind umgekommen.“ (Max-Erwin Jotkowitz)

Geburtstag. Steine. Zeichen

Hamburg, gemeinsam: „Wir sprechen hier in der Gruppe mehr über das, was früher war, als ich in meinem ganzen Leben davor gesprochen habe. Wir erzählen alle, was uns passiert ist, was wir gedacht haben und was wir erinnern. Man hört, was die anderen sagen, und dann fällt einem selbst was ein: Ja, das ist richtig, und dies ist mir passiert.“ (Ellen Appleton, Johannesburg)

Hamburg, Kindheit: „Man merkte damals nicht, daß mit der ganzen Stadt etwas vor sich ging. Man merkte es nur an kleinen, persönlichen Dingen. Wie meine Geburtstagsfeier Ende 1932. Ich lud Kinder aus meiner Klasse dazu ein, vielleicht acht von ihnen, wie schon im Jahr zuvor und auch davor. Niemand sagte irgendwas, aber nur ein einziges Mädchen kam. Das war ein Zeichen. Entweder waren die Leute schon Nazis, oder aber sie hatten Angst. Das waren die beiden Möglichkeiten. Vielleicht dachten manche, der Umgang mit uns Juden sei schädlich. Man fühlte diese kleinen Dinge.“ (Charlotte Rosen)

Hamburg, fremd: „Eines Tages kam ich nach Hause, und da waren zwei oder drei Mädels. Die haben mir verschiedene Schimpfnamen nachgerufen. Dann haben sie mit Steinen nach mir geschmissen. Das zweite Mal, da haben sie zu mir gesagt: ,Du bist Jude – wir haben gehört, Juden sind nicht gut.' Und das hat einen großen Eindruck auf mich gemacht. Weswegen, ich war doch nicht eine andere Person, ich hatte mich doch nicht geändert? Ich erinnere mich auch, wie ich in der Schule war, so 1938, daß ein oder zwei Kinder weg waren. Ich konnte es nicht verstehen. Ich fragte mich, weswegen gehen die Leute alle weg, weswegen müssen wir weggehen? Ich wollte wirklich nicht weggehen, Amerika war ein so fremdes Land.“ (Lilli Greenebaum)

Ausflüge.

Hamburg, erinnert: „Einmal bin ich mit einem Nachbarjungen, der bei uns auf der Gerhofstraße gewohnt hat, Günter Stern, an einem Sonntag oder in den Schulferien, nach Bergedorf gefahren für einen Tag. Als wir uns fertiggemacht hatten, um nach Hause zu gehen, zum Bahnhof, kamen da sechs Hitlerjungs an. Wie alt die waren, weiß ich nicht mehr, aber sie waren bestimmt über sechzehn Jahre alt. Und woher wußten sie, daß wir jüdische Jungs waren? Wir haben keinen Judenstern getragen. Damals, 1935, gab es das noch nicht. Ich weiß nur, mit einmal kamen zwei von den Hitlerjungs, und jeder nahm uns so mit den Schultern zurück angepresst an ihn, und die andern beiden haben uns getreten und geschlagen. So sind wir von den sechs Jungs getreten und geschlagen worden, und dann haben sie uns die Schuhe ausgezogen und gesagt: ,Ihr braucht die Schuhe nicht, ihr könnt so nach Hause gehen.' Wir haben stark geblutet. Ich hab' von der Nase geblutet und vom Mund, und wir sind sozusagen zum Bahnhof gekrochen.

Ich weiß nicht, was ich zuhaus erzählt habe. Ich habe nicht gewagt meinem Vater zu sagen, was uns wirklich passiert war. So hat man Angst gehabt, sich überhaupt daran zu erinnern. Ich hatte es so ausgeschlossen aus meinem Kopf, daß es mir erst eingefallen ist, wie ich den Namen Bergedorf hier auf der Karte gesehen habe. Wie wir auf dem Bahnhof standen und ich gesehen habe: Bergedorf. Da ist es mir wieder zurückgekommen. (Max-Erwin Jotkowitz)

Fragen. Gedanken.

Hamburg, unerwartet: „Ich wohne in Toronto, Kanada. Wenn ich dort irgendwo Deutsch höre, guck ich rum und ich sehe jemanden. Wenn er jung ist, frag ich mich, was haben seine Eltern im Krieg gemacht; wenn er älter ist, dann frag ich mich, was hat er gemacht. Und es hat mich erstaunt, daß wenn ich hier in Hamburg rumgehe, denke das ich nicht. Ich weiß nicht, warum.“ (Felice Spitzer)

Hamburg, irritierend: „Ich dachte, es würde einfacher sein, als es war. Ich hätte nicht gedacht, daß es mich so aufregen würde. In den Nächten habe ich auch sehr viel nachgedacht, an Sachen von früher. Ich habe mir viele Fragen gestellt, und auf ein paar davon konnte ich antworten. Bei manchen Dingen hatte ich mehr Fragen, als Antworten.“ (Lilli Greenebaum)

Hamburg, zwiespältig: „Ein bißchen Hesitation wird immer bleiben, ich kann nicht frei mein Herz an Deutschland geben. Das werde ich, glaube ich, nie können. Aber es hat wirklich geholfen. Man hat gemerkt, daß viele Deutsche tun, so viel wie können, um wieder gutzumachen, was da so schrecklich passiert ist. Man kann Vergangenes nicht ändern. Ich glaube, jetzt müssen wir sehen, ob wir vergeben können. Vergeben und vergessen – vergessen nie, nie vergessen! Vergeben – vielleicht. Vielleicht. Ich glaube, dieser Besuch hat viel geholfen auf dem Weg, daß wir ein bißchen vergeben können. Ich habe eine Zeit durchgemacht, wo ich die Deutschen gehaßt habe. Sehr gehaßt. Meine Eltern wollten nichts mit Deutschland zu tun haben. Wir haben kein deutsches Auto gekauft, keine deutsche Kamera gekauft. Das hat viele Jahre gedauert. Und doch, man kann nicht durchs Leben gehen, nur um Leute zu hassen, das geht nicht. Wir sind nicht so. Hassen tue ich jetzt nicht mehr. Aber mein ganzes Herz kann ich nicht an Deutschland geben.“ (Ellen Appleton)

Fortgehen. Wiederkehren.

Abschied von Hamburg, heute: die Reise in die eigene Geschichte bedeutet Erleichterung und Last zugleich. Der Besuch in diesem entfremdeten „Daheim“ ist problematisch, muß es wohl immer bleiben. Könnte ein weiterer Aufenthalt helfen?

„Damit würde ich immer noch Schwierigkeiten haben. Ich habe leider die Angewohnheit, mich immer nach Leuten meines Alters umzuschauen, die ich auf der Straße sehe. Und dann überlege ich. Damit ist es nicht leicht zu leben. Wenn es ginge, würde ich gern kommen und meine Kinder mitbringen, denn die sind interessiert und sollten es sehen. Es wäre gut für sie, die Hintergründe zu verstehen. Ja, aus diesem Grund würde ich gern noch einmal kommen. Aber ich weiß nicht, ob ich diese schöne Stadt zu einem gewöhnlichen Ferienziel machen könnte, da sind zu viele Erinnerungen, auch wenn ich Hoffnung sehe.“ (Charlotte Rosen)

Hamburg, verändert: „Ich konnte diese Woche nicht alles sehen. Ich würde sehr gern etwas mehr von Hamburg kennenlernen und herausfinden, wie meine Eltern hier gelebt haben. Und ich würde dann auch in die Bibliothek gehen oder ins Archiv, um etwas mehr über unsere Familie zu erfahren. Dazu hatte ich jetzt nicht die Zeit. Nein, ich glaube, ich würde noch mal kommen. Vielleicht hat diese Woche mir das gezeigt: Ich könnte zurücckommen.“ (Felice Spitzer)

Hamburg, jüdisch. „Viele haben mich gefragt: Wie kannst Du nach Deutschland zurückgehen? Ich wollte zurückgehen; man muß mit Leuten sprechen, damit sowas nie wieder passiert. Man kann den Kopf nicht in den Sand stecken. Man muß etwas machen, man muß weitergehen. Wenn Juden nicht hierher zurückkommen, dann hätte Hitler gewonnen; er wollte dieses Land ja judenfrei machen. Und wir müssen zeigen, daß, nein, es soll nicht judenfrei sein!“ (Lilli Greenebaum)