Dabei bewahrt er stets gute Laune...

Jeder kennt welche: Die Leute, die er als Verlierer bezeichnen muß. Am stärksten imponieren natürlich die Abgestürzten, die Bettler und Penner und Trinker, die wie allegorische Figuren das Stadtbild bevölkern. Jede Elendsgestalt trägt eine Unterschrift, die uns mahnt, des Schicksals eingedenk zu bleiben, das jeden von uns plötzlich auf die Verliererseite transferieren könnte. Verlierer – neudeutsch auch Loser genannt – sind freilich nicht nur die Armen, sondern auch eist erfolgreiche Männer und Fraen, die jetzt auf ihre eigene Art um Almosen bitten müssen. Zum beängstigenden Zustand des Scheiterns ein mitfühlender Essay  ■ von Michael Rutschky

Bettler versammelten sich vor der Kirche schon im Mittelalter, erbaten Almosen von den Kirchgängern, die Barmherzigkeit zu zeigen angewiesen waren. Seit einigen Jahren bevölkern den Platz vor der Kirche, dem Dom auch wieder Gaukler, die allerlei Kunststückchen zeigen, ebenfalls ein archaisches Personal. Augenscheinlich stellen sich nicht nur Bio-, sondern auch Soziotope von selber wieder her, nicht nur Auwälder, sondern auch die Bettler- und Gauklergesellschaft vor der Kirche.

Auf Anhieb würde man behaupten, die Anzahl dieser Verlierer habe sich in den letzten Jahren drastisch erhöht. Als allegorische Figuren verkörpern sie die schweren Unheilsahnungen, die das lebhafte und lustige Getriebe der modernen Welt grundieren. Jedermann weiß doch, wer für die Massenproduktion von Verlierern verantwortlich ist, unsere Wirtschaftsform, die immer mehr Leute ohne Arbeit läßt. Und von den Arbeitslosen bricht dann ein unterer Rand, wie jeder weiß, ab und endet in Alkoholismus und Obdachlosigkeit.

Bemerkenswerterweise kennt niemand in meinem Umkreis persönlich einen dieser Verlierer. Wen unsereins kennt, das ist die Sozialarbeiterin, die mit dem Kunsthistoriker verheiratet ist, eine fröhliche und patente Frau, die von Berufs wegen mit den Elendsgestalten zu tun hat. Sie erzählte von den großen Schwierigkeiten, die in den USA die Sozialforscher hatten, sie überhaupt zu zählen. Tatsächlich bewegen sie sich in einer Urlandschaft: Obwohl eigentlich in der Öffentlichkeit der großen Städte beheimatet, können sie darin verschwinden wie im Wald.

Das klingt fast romantisch, und in der Tat bevölkert im Sommer hier bei mir um die Ecke ein Trinkersoziotop die kleine Grünanlage, dessen Schwadronieren ich oft entnommen habe, daß man sich stolz als Außenseiter fühlt, unangepaßt, eine Art Piraten oder Indianer, die die Unterwerfungsleistungen der kleinen Angestellten eigensinnig verweigern, Prost! Der Cheftrinker läuft in knallbunten Hosen herum, die Haare zu einem Zöpfchen geflochten, gern halbnackt. Dann kann man auf seinem geschwollenen Bauch kühne Tätowierungen bewundern. Er sieht sich keinesfalls als Verlierer; er ist Bohemien, Nonkonformist.

Weil unsereins höchstens über die Sozialarbeiterin Kenntnis von der Gesellschaft der Trinker und Bettler und Obdachlosen erlangt, hat man immer so rasch die Grenze zum Imaginären überschritten. So hielt ich sie stets für Ausgeschlossene, denen sozusagen die Integration verweigert wird von unserer Seite – bis mich meine Sozialarbeiterin darüber aufklärte, daß viele, Stichwort Urlandschaft, in einem grundsätzlichen Sinne ungesellig sind, radikale Einzelgänger, die Wohltätigkeiten einfach unerträglich finden. Was sieht man aber, wenn man sich im eigenen Umkreis umschaut und nach den Verlierern sucht?

Zunächst einmal: niemanden, denn sie gingen früh verloren, der fleißige Germanistikstudent, der es rasch bis zum Doktor brachte, dann ein Habilitationsstipendium – aber er wurde nie fertig mit der großen Untersuchung über die deutsche Kunstreligion. Er lebte davon, daß er andere Stellen vertrat, für ein oder zwei Semester, heute in Tübingen, übermorgen in Wien. Und dann fiel irgend jemandem plötzlich auf, daß er verschwunden war, im Nebel gewissermaßen. „Nicht mal zu einer Ehefrau“, schloß meine Freundin Jutta bitter, „hat er's gebracht, die als Studienrätin das Geld verdient.“

Beginnt man nach solchen Verschwundenen zu graben, wird man in immer älteren Schichten fündig. So erinnere ich mich deutlich an mehrere Genies aus meiner Gymnasiastenzeit, von denen der Lauf der Begebenheiten das Geniale drastisch entfernt hat. Ein schönes Mädchen mit undurchsichtigem, womöglich adligem Familienhintergrund, das eines Tages in der Klasse stand, weil ihre Lebensumstände es so gefügt hatten; wir müssen um die sechzehn gewesen sein. Der Eigensinn des schönen Mädchens äußerte sich so durchdringend, daß sogar die Lehrer ihn anerkannten, zumal er sich in exquisiten Bildungsinteressen ausgab.

Gut erinnere ich mich an eine Szene, wie der Mathematiklehrer zu ihrem Sitzplatz schlich, um sie beim selbstvergessenen Lesen unter der Bank zu ertappen, aber bei dem Buch, das er sich mit strenger Miene aushändigen ließ, handelte es sich um Karl Jaspers' „Der philosophische Glaube“, eine seinerzeit hochangesehene Schrift, die der Mathematiklehrer vermutlich selber studiert hatte.

Und so reichte er dem schönen Mädchen die Lektüre mit einem beinahe anerkennenden Lächeln zurück. Sie hatte uns und ihn von Anfang an wissen lassen, sie werde sich um gute Noten in Mathematik mangels Begabung und Kenntnissen gar nicht erst bemühen, sie konzentriere sich besser auf Ausgleichsnoten, eine Umsicht, die unsere Bewunderung noch steigerte, denn wir klebten sozusagen an jeder Note in jedem Fach fest, und uns verschaffte erst das Zeugnis Überblick.

Universitätsprofessorin gab das schöne Mädchen als Berufswunsch nach dem Abitur an, und wir zweifelten keinen Augenblick, daß sie es schaffen würde. Sie wählte eine ganz andere Universität als die, auf welche wir uns in Cliquen verteilten – und bei dem Klassentreffen zwanzig Jahre später hatte einer zu berichten, sie habe wohl des Studium rasch abgebrochen, er sei ihr zufällig in einem mittelmäßigen Antiquariat wiederbegegnet; dreißig Jahre später war davon die Rede, daß sie in der Psychiatrie gelandet sei; immer wieder freie Intervalle, keine Internierung, sie lebe draußen, von Medikamenten ruhiggestellt. Das philosophische System, an dem sie arbeitete, hatte sich als Wahnsystem entpuppt.

Merkwürdigerweise bietet auch eine solche Verlierergeschichte sich sofort zur Beschriftung mit einer Moral an. Das Junggenie hat, so scheint es, ein Gleichgewicht gestört, sie war zu früh gestartet: Du mußt mit deinen Kräften haushalten, mahnt die Geschichte, du darfst nicht alles auf einmal ausgeben.

Genau besehen trifft auch auf diese Geschichte zu, was allgemein für die Gesellschaft der Verlierer gilt: Man kennt keinen Obdachlosen persönlich. Und der Untergang des schönen Mädchens vollzog sich jenseits des Horizonts ihrer ehemaligen Mitschüler. Wer wünscht sich dabei auch Zuschauer?

So muß ich auf meine alte Freundin O. kommen, zu der die Fäden nie abgerissen sind. Der zentrale Fehler ihres Lebens: Sie hat ihr Studium nie beendet; zugleich konnte sie sich nie völlig vom Unimilieu losreißen – um draußen beispielsweise ein Taxiunternehmen aufzuziehen.

Lange Jahre wurde sie als Hilfskraft von einem Forschungsprojekt zum nächsten mitgeschleppt, bis sie als Hilfskraft über mehr Kompetenz verfügte als die Chefs, was die Beziehung beendete. Freundliche Geister verschafften mal hier, mal da einen Übersetzungsauftrag – meine Freundin O. hat Slawistik studiert –, aber für den Beruf der Übersetzerin war sie sich irgendwie zu fein. Manchmal wird sie als Dolmetscherin gebeten, denn sie ist billig und verfügt über Fachkenntnisse. Immer wieder lange Monate auf Arbeitslosengeld. Sie liest dann ganz genauso aufmerksam die Zeitungen, geht spazieren, trödelt, bleibt guter Laune, bildet sich ihre Meinungen über dies & das.

Vielleicht ist dies das Zentralproblem meiner alten Freundin O., ihre Meinungsfreude. Ununterbrochen hat sie die Ereignisse des In- und Auslandes, die Kommunalpolitik, die neuesten Bücher und Theaterinszenierungen zu beurteilen. Sie ist in der Tat die ideale Zeitungsleserin, insofern sie hier allen Stoff für ihre Meinungsfreude findet; einen Stoff richtig zu durchdringen, dafür hat sie keine Zeit.

Meine Freundin O. ist, was man eine Achtundsechzigerin nennt, und ein recht unglückliches Exempel davon. Praktisch ist es das Licht von Achtundsechzig, in das sie all ihre Zeitungslektüre taucht: Irgendwie läuft seit damals alles schief. Schon gar jetzt, wo nach dem langen Marsch durch die Institutionen einige von uns oben angekommen sind und die Regierung stellen. „War es das, was wir wollten?“ fragt meine Freundin O. lustig, „wolltest du wirklich Bundeskanzler werden?“ In demselben lustigen Ton, denn sie ist als Verliererin keineswegs depressiv, gestand sie mir bei meinem letzten Besuch in München, sie habe seit drei Jahren keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt: Das sei doch typisch für die Zeitläufte, „wohin ist es mit uns gekommen?“ Zur Erinnerung: Mit dem wilden Psychoanalytiker Wilhelm Reich teilten die Achtundsechziger den Glauben an die umstürzende Kraft des Orgasmus.

Betrachtet man meine Freundin O. als Verliererin, so fällt gleich die Ähnlichkeit mit dem schönen philosophischen Mädchen ins Auge. Auch sie hat ihre Kräfte, statt hauszuhalten, zu früh ausgegeben, im Umkreis der Jugendrevolte von Achtundsechzig. Sie hätte übrigens nichts gegen meine Klassifikation; sie würde nur flugs behaupten, alle Achtundsechziger seien Verlierer, wer gewonnen zu haben vermeine, sei bloß ein Opfer des objektiven Verblendungszusammenhangs.

Kein gerader Gedankenweg führt von dem schönen philosophischen Mädchen sowie meiner alten Freundin O. zu jener Verlierergesellschaft der Trinker, Penner und Bettler. Diese Verlierer waren immer schon unten. Wenn ich den Erzählungen meiner Nachbarin, der Sozialarbeiterin, folge, findet sich ein weit entferntes Äquivalent zu jener Jugendgenialität des schönen Mädchens, der Aufbruchstimmung meiner Freundin O. um Achtundsechzig manchmal in irgendwelchen großen Liebesgeschichten, die scheitern. Der junge Mensch männlichen oder weiblichen Geschlechts entkommt seinen katastrophalen Familienverhältnissen für eine kurze überschwengliche Zeit, in der die große Wende möglich scheint, ein ganz anderes Leben – aber dann gehen die Geliebten irgendwie verloren, und der Absturz ist um so gründlicher.

Daß ein entferntes Äquivalent zur Meinungsfreude meiner Freundin O. sich in dem Schwadronieren findet, mit dem beispielsweise das Trinkersoziotop aus der Grünanlage die Sommerluft zu erfüllen liebt, daraus will ich hier nichts weiter machen. Dunkel erinnere ich mich an einen angelsächsischen Essayisten, der ebenso radikal wie witzig das Schwadronieren des Trinkers als Philosophieren dargestellt hat, dieselbe Art, über Gott und die Welt gewagte Behauptungen aufzustellen, unterschieden bloß in der Haltlosigkeit. Aber meine alte Freundin O. ist, soweit ich weiß, keine Alkoholikerin.

Es ist nun einer dritten Kategorie von Verlierern zu gedenken, im Westen nur als Mediengespenst auffindlich, im Osten leibhaftig. Eine Zeitlang hießen sie „Wendeverlierer“; aber das Wort hat sich wieder verflüchtigt.

Eigentlich müßte Dr. G. längst Professor sein. Ganz anders als meine alte Freundin O. hat er sein Studium ordentlich abgeschlossen, er hat promoviert und sich habilitiert – ehrenwerte, anerkennungswürdige Arbeiten, wie später die Kommission befindet. Zwar war er Mitglied der SED, kurzfristig im Aufbruchsdurcheinander von Neunundachtzig/Neunzig auch Parteisekretär seines Instituts, weil sich auf ihn alle Reformkräfte einigen konnten; aber die Kommission findet keinerlei Kontakte zum MfS, dagegen Parteiordnungsverfahren.

Als Wissenschaftler konnte Dr. G. den Zusammenbruch der DDR nur begrüßen; endlich könnte er sich frei für Themen und Methoden entscheiden; alle ideologischen Sicherheitsvorschriften fielen plötzlich weg. Aber der Fachbereich, an dem Dr. G. lehrte und forschte und der ihn bald zum Professor berufen hätte, wurde nach der Vereinigung vollständig umgebaut. Streng legal und nach den Regeln der inneruniversitären Demokratie ergriffen Westprofessoren die Macht und stellten den Lehrplan so um, daß für Dr. G. einfach kein Platz mehr war. Auch an keiner der anderen Universitäten.

So mußte sich Dr. G. mit Mitte vierzig im freien Feld aus verschiedenen Lehr- und Forschungstätigkeiten eine prekäre Existenzgrundlage schaffen. Das freie Dasein hat nicht einmal einen richtigen Namen, wenn er nach seinem Beruf gefragt wird. Doch bewahrt er dabei eine bemerkenswert gute Laune.

Seine Geschichte unterscheidet sich von persönlichen Abstürzen, rätselhaften Verliererschicksalen in einem zentralen Punkt: Sie betrifft ein Kollektiv. Sehr viele Bewohner der ehemaligen DDR haben nach deren Zusammenbruch und dem Beitritt zur BRD keineswegs sofort alle Chancen und Segnungen der sozialen Marktwirtschaft erlangt, den großen Geschenkkorb, Fortunas Füllhorn. Dr. G. kann all die Geschichten erzählen, am Kranz der Verlierergeschichten flechten, der auch die seine enthält.

Der ehemalige Leiter des zentralen Stasikulturhauses – hier habe einst Pavarotti gesungen! – macht jetzt in Betonfachhandel. Die Soziologen im Bankgewerbe. Die Parteimitglieder, die im Versicherungswesen reüssieren – was sich zunächst nach Erfolgsstory anhört, aber dann doch keine ist: Schließlich können sie nicht vergessen, daß sie einmal den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden errichten wollten, in der großen Tradition des europäischen Humanismus. Da hilft auch die Regionalleitung von Securitas kaum drüber weg.

Das letzte vergleichbare Verliererkollektiv, das ich zu sehen bekommen habe, waren gewisse Studentenkader der siebziger Jahre, die nicht mehr automatisch ins Lehramt übernommen wurden. Sie waren es, die dann Taxi fuhren, Bars eröffneten und von ihrer Generation den Verlierermakel tilgten. So wird es irgendwann auch in Ostdeutschland zugegangen sein. Kein Verliererkollektiv mehr erkennbar. Und das ist natürlich der schneidende Unterschied: Kein Weg führt das ehemals schöne Mädchen aus seinem Wahnsystem auf einen Redakteursstuhl für Sachbuchkritik; niemals wird meine alte Freundin O. Kulturattaché an der Deutsche Botschaft in Moskau. Von den Trinkern, Pennern und Bettlern zu schweigen, denen der Weg in das Leben der kleinen Angestellten auf immer verlegt ist. Das sie stolz verschmähen, Prost!

Michael Rutschky, 56, als Heinrich-Mann-Preisträger eine Art Nichtverlierer, lebt in Berlin und schreibt als Essayist u. a. für die taz, den „Merkur“ und die „Zeit“