Als gäbe es kein Morgen

1982 brach die internationale Schuldenkrise offen aus, die in der Folge fast die gesamte Dritte Welt in ihren Strudel riß. Gelöst wurden seither allenfalls die Probleme der Gläubiger, keinesfalls aber die der verschuldeten Entwicklungsländer. Kommende Woche nun wollen die Gläubigerstaaten auf dem Kölner Weltwirtschaftsgipfel endlich ernsthaft über einen teilweisen Schuldenerlaß reden  ■ Von Nicola Liebert

Das Verwaltungshochhaus sollte das größte moderne Gebäude in ganz Lateinamerika werden. 1982 aber verwandelte sich der Rohbau der staatlichen mexikanischen Ölgesellschaft Pemex in die größten Investitionsruine des Landes. Kurz danach verkündete der damalige Staatspräsident José López Portillo, der Konkurs stehe unmittelbar bevor – nicht der der Ölgesellschaft, sondern der des ganzen Landes.

Das war der Anfang der Schuldenkrise. Viel wurde seither über den Reformbedarf des globalen Finanzsystems diskutiert – geändert hat sich nichts, wie sich spätestens vor zwei Jahren zeigte. Im Juli 1997 wurde der thailändische Baht abrupt abgewertet, und damit begann die Asienkrise, der die Rußlandkrise folgte und um ein Haar eine Brasilienkrise. Auch diese neuen Krisen entpuppten sich im Kern als Verschuldungskrisen. Die mächtigen Regierungen, die sich als G 7 jedes Jahr im Sommer zu einem Weltwirtschaftsgipfel treffen, möchten die Anfälligkeit des Systems beheben. Zumindest steht dies oben auf der Agenda des Kölner Gipfels.

Zunächst aber, im Krisenjahr 1982, sah das Debakel lediglich aus wie eine Ölkrise mit umgekehrten Vorzeichen. Mexiko hatte sich in den 70ern ganz dem Ölboom verschrieben. Als nach 1974, dem Ausbruch der Ölkrise in den Industrieländern des Nordens, der Preis für das Barrel Erdöl von vorher zwei auf bis zu 34 US-Dollar schoß, schienen der Entwicklung des Öllandes Mexiko keine Grenzen mehr gesetzt zu sein. Die großen Banken des Nordens drängten dem Land die Kredite förmlich auf. Mexikos Schulden vervierfachten sich innerhalb weniger Jahre – aber was soll's, dachten sich Kreditnehmer wie –geber, die Zinsen waren niedrig, die Öleinnahmen stiegen.

Das Jahr 1982 brachte die Wende. Der Ölpreis sank wieder, und die Ausgaben der mexikanischen Regierung überholten schnell die Einnahmen. Den Teilnehmern der IWF-Jahrestagung im September 1982 in Toronto eröffnete der mexikanische Finanzminsiter Jesús Silva Herzog, sein Land sei zahlungsunfähig.

Nicht nur auf Mexiko beschränkte sich die Krise. Zahlreiche andere Länder, besonders in Lateinamerika, gerieten ebenfalls an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Sie alle hatten sich im Namen der herrschenden Entwicklungsdoktrin, der „importsubstituierenden Industrialisierung“, verschuldet, als gäbe es kein Morgen. Sie alle hatten der Aufdringlichkeit der Banken aus dem Norden nachgegeben. In den Industrieländern nämlich fand das Kapital in den Zeiten der Ölschocks und der aufflammenden Inflation keine sonderlich lukrative Verwertung mehr, Sachinvestitionen wurden nur noch in geringem Ausmaß vorgenommen. (Ganz ähnlich übrigens die Ereignisse der 90er, als bei anhaltender Wachstumsschwäche in Europa bei gleichzeitigem Boom in Ostasien die Anleger ihr Geld massenweise in den Fernen Osten schaufelten – bis es dort zum Crash kam.)

Doch dann änderten sich die Vorzeichen, nicht nur in Hinblick auf den Ölpreis. Auch andere Rohstoffe wurden im Verhältnis zu den Industriegütern aus dem Norden immer billiger, und damit sanken die Einnahmen der Entwicklungsländer. Mitte der 80er Jahre fielen die Rohstoffpreise real unter den Stand von 1932, als die Weltwirtschaftskrise auf ihrem Höhepunkt war.

So geriet zum Beispiel auch die Elfenbeinküste ins Trudeln, die bislang als kapitalistisches Musterland galt. Die sogenannten terms of trade der Elfenbeinküste und anderer afrikanischer Länder, die völlig einseitig vom Export landwirtschaftlicher Rohstoffe abhängen, verschlechterten sich in den 80ern um rund ein Drittel: Wenn eine Nähmaschine früher vielleicht zehn Säcke Kakao – das Hauptausfuhrprodukt der Elfenbeinküste – kostete, waren es nun 15.

Dazu kamen weitere Probleme, die unmittelbar mit dem Amtsantritt Ronald Reagans verbunden waren, der amerikanische Stärke mit der Stärke des US-Dollars gleichsetzte. Die US-Zinsen wurden schlagartig angehoben, was gleichzeitig der Inflation, dem Gespenst der 70er Jahre, den Garaus machen sollte. Hoher Dollar und hohe Zinsen trieben die Entwicklungsländer vollends in den Ruin: Weil die Schuldtitel auf Dollar lauten, stieg der Wert dieser Schulden in heimischer Währung gerechnet ins Unermeßliche. Und weil die Kredite mit flexiblem Zinssatz versehen waren, mußten viel mehr Zinsen als zuvor gezahlt werden.

1984, im Jahr zwei der Schuldenkrise, kehrte sich der globale Geldstrom um: Mehr Geld floß aus den armen Ländern in die reichen (in Form von Schuldendienst) als umgekehrt (in Form von Investitionen oder Entwicklungshilfe). Kredite erhielten die Schuldnerländer praktisch nur noch, um Zins- und einen Teil der Tilgungszahlungen an die Industrieländer leisten zu können. Durch die neuen Kredite aber und die vielen Umschuldungen (im Grunde nichts anderes als ein Hinauszögern der Fälligkeit eines Kredits) wuchs der Schuldenberg des Südens weiter: von 800 Milliarden US-Dollar 1982 auf inzwischen über zwei Billionen.

Die schieren Dollarbeträge sagen jedoch nur wenig über die Leiden der betroffenen Länder aus. Gerade die Ärmsten der Armen, wie Mosambik oder Nicaragua, haben das Geld nicht in dem Maße in den Rachen geworfen bekommen wie etwa Brasilien und Mexiko. Dennoch ist ihre Schuldenlast viel drückender. So belaufen sich die Schulden Nicaraguas auf knapp sechs Milliarden Dollar, ein Klacks verglichen mit den 180 Milliarden Brasiliens. Zum unüberwindlichen Entwicklungshindernis werden die nicaraguanischen Schulden jedoch auf Grund der geringen Wirtschaftsleistung des Landes und wegen der mageren Deviseneinnahmen durch Exporte. Ein Viertel der Exporteinnahmen geht für den Schuldendienst drauf, der Schuldenberg Nicaraguas ist dreieinhalb mal so groß wie sein jährliches Bruttosozialprodukt.

Die Gläubigerbanken waren indes relativ schnell aus dem Schneider. Beim Ausbruch der Schuldenkrise 1982 schienen Zusammenbrüche von Banken im Dominostil nicht ausgeschlossen. Das damalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, Wilfried Guth, sprach von einem „Härtetest, dem das Finanzsystem zum ersten Mal wirklich unterzogen wird“. Schon im nächsten Jahr, als mit feuerwehrartigen Hilfskrediten des IWF die Zahlungsfähigkeit der Schuldnerländer gerade noch gerettet worden war und die betroffenen Banken – natürlich steuerbegünstigt – die ersten Rückstellungen für uneinbringliche Kredite vorgenommen hatten, sah die Welt wieder viel rosiger aus, jedenfalls aus Sicht des Nordens.

Die Banken sorgten nicht nur durch Rückstellungen für ihre Sicherheit, sondern auch, indem sie uneinbringliche Schuldtitel auf einer Art Wertpapier-Secondhand-Markt verscherbelten. „Der Dollar ist nicht mehr 100 Cent wert“, war damals ein geflügeltes Wort in Bankerkreisen. Das heißt, die Bank verkaufte etwa einen Schuldschein, der auf 100.000 Dollar lautete, für 30.000 Dollar an einen privaten Investor. Beispielsweise an einen US-Agrarkonzern, der in dem Schuldnerland, sagen wir Peru, investieren wollte. Mehr war der Schuldschein nicht wert, weil niemand mit einer vollen Rückzahlung des Nennwerts rechnete. Der Agrarkonzern konnte dann mit einem unwiderstehlichen Vorschlag an die peruanische Regierung herantreten: Statt die 100.000 Dollar zurückzuzahlen, könnte das Land in Naturalien bezahlen, sagen wir mit einer Düngemittelfabrik. Weil in Peru ohnehin der IWF als Gegenleistung für die Gewährung weiterer Kredite das Regiment übernommen hatte und die Privatisierung von Staatsunternehmen vorschrieb, übereignete die peruanische Regierung dem US-Konzern die Fabrik oder zumindest einen Anteil daran. Debt-equity-swaps heißt dieses Manöver, das den Schuldenberg zwar nur unwesentlich reduzierte, aber beträchtliche Teile des Anlagevermögens der Schuldnerländer in die Hände von Unternehmern aus dem Norden brachte.

Alfred Herrhausen, ermordeter Ex-Chef der Deutschen Bank, war der erste Banker, der durch die Blume auf die Perversion dieser Swaps hinwies: Wenn die Banken doch ohnehin auf bis zu zwei Drittel des Betrages verzichten, dann sei das doch nicht viel anderes, als ein Forderungsverzicht – wie ein Schuldenerlaß. Nur daß dieser Forderungsverzicht nicht den verschuldeten Ländern zugute kommt, sondern Unternehmern oder Spekulanten aus den Industrieländern. Herrhausen äußerte 1987 am Rande der IWF- und Weltbank-Jahrestagung, einen Forderungsverzicht der Gläubigerbanken würde er „nicht grundsätzlich ausschließen“ – und zog sich damit den Haß seiner Kollegen zu. Für die Banken, die sich gegen die Risiken der faulen Kredite längst abgesichert hatten, erwiesen sich die Schulden der Entwicklungsländer nämlich als wahrer Geldsegen: Fast alle Länder zahlten brav die Zinsen weiter, um nicht als Parias aus dem globalen Finanzsystem ausgeschlossen zu werden. So groß soll daher die Wut bei den anderen Banken, insbesondere in den USA und Japan, gewesen sein, daß später verschwörungstheoretische Gerüchte aufkamen, Herrhausen sei 1989 nicht Opfer der RAF, sondern interessierter Finanzkreise geworden.

Dennoch, der Geist ließ sich nicht mehr in die Flasche bannen, die Forderung nach einem Teilerlaß der Schulden wurde auch jenseits linker, entwicklungspolitischer Kreise lauter. Allerdings richtete diese sich inzwischen nicht nur an die Banken, sondern zunehmend an IWF und Weltbank sowie die Staaten des Nordens, bei denen sich die Forderungen aus Handelskrediten und Entwicklungshilfe häuften. Immerhin eröffneten die Staatschefs beim Weltwirtschaftsgipfel 1988 die Möglichkeit, bis zu einem Drittel dieser bilateralen Schulden zu erlassen. Auf dem bevorstehenden G-7-Gipfel in Köln soll nun über einen Erlaß der zwischenstaatlichen Schulden von bis zu hundert Prozent verhandelt werden.

Lange Zeit war es ein absolutes Tabu, daß auch IWF und Weltbank, bei denen vor allem Länder stark in der Kreide stehen, die keine anderen Geldquellen mehr haben, Schulden erließen. Da schien es nachgerade revolutionär, daß diese Washingtoner Institutionen vor drei Jahren einen teilweisen Erlaß ihrer Forderungen anboten. Die Hürden sind jedoch so hoch, daß im Rahmen dieser Initiative bisher gerade mal zwei Länder, Uganda und Bolivien, tatsächlich ein paar Schulden erlassen bekamen.

Auf dem Kölner Weltwirtschaftsgipfel soll nun diskutiert werden, ob ein paar der ärmsten hochverschuldeten Länder mit einer Erleichterung rechnen können. Die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und der britische Finanzminister Gordon Brown drängen auf Fortschritte. Jedoch mehren sich die Anzeichen, daß das Kosovo und die Nachkriegsordnung in Ex-Jugoslawien die Schuldenkrise aus dem Zentrum der Gipfel-Besprechungen verdrängen.

Nicola Liebert, 35, seit sechs Jahren bei der taz, leitet das Ressort Ökologie & Wirtschaft