Die Panik des gefangenen Tiers

■ Vom Geburtskanal bis zum Sarg aus weißem, lappigem Plastik: Der Choreograph und Kresnik-Tänzer Osvaldo Ventriglia seziert die Könige aus Shakespeares Rosenkriegen

Der Blick steil von oben gleicht dem durch ein Mikroskop. Was sich da über den Boden des New-Globe-Theaters im Prater schiebt, schraubt und windet, erinnert nicht selten an Lebensformen, die der Entwicklung des Menschen vorausgingen. Für seine „Anatomie der Könige“, ein „Spezial“ im Volksbühnen-Ring der Rosenkriege, nutzt der Choreograph Osvaldo Ventriglia die Konstruktion der Bühne konsequent für eine horizontal orientierte Körpersprache. Nie kann man sonst so gut den Bewegungsimpuls aus dem Torso heraus verfolgen und die Wellen beobachten, die sich aus der Wirbelsäule bis in die Zehen fortpflanzen. Womit leider schon das Beste über das Stück gesagt ist.

Denn Ventriglia darf sich nicht damit begnügen, ein Bewegungsthema, das ihn auch in seinem letzten Stück, „Schatten“, interessierte, auszubauen. Er muß statt dessen dem Sprint seiner Regiekollegen von der Volksbühne durch die Theatergeschichte folgen und die Rosenkriege stemmen. Eine These über den Körper der Könige lag vor: „Es gibt den sterblichen Körper, schwach und anfällig; und es gibt den unsterblichen, die Inkarnation des Staates als großer Körper“, schrieb Dietrich Schwanitz in seinem Shakespeare-Kommentar.

Das ist auch die Geschichte von Shikhar Kapurs „Elisabeth“-Film. Ab dem Tag, an dem sie Königin geworden ist, verlangt ein Staatsbeamter Auskunft über jedes Detail ihres Körpers, Liebschaften, Appetit, Blutungen und Körpersäfte. Denn ab jetzt gehört ihr Körper nicht mehr ihr. Dem Film gelingt es, mit Leidenschaft von diesem Verlust des physischen Körpers zu erzählen, weil er sich anstecken läßt vom Lebenshunger und wenigstens dem Versprechen von Glück.

Das aber fehlt der „Anatomie der Könige“: Hier ist alles Qual von Anfang an. So wird statt von der Differenz zwischen dem sterblichen und dem unsterblichen Körper nur von der Gewalt erzählt, die ersterem angetan wird. Nie schauen die Protagonisten anders zu uns auf als in der Panik eines gefangenen Tiers.

Der Auftritt der Könige beginnt mit dem Weg durch den Geburtskanal: Millimeter für Millimeter schuften sie sich durch transparente Schläuche bis ins Bühnenrund. Dort bleiben ihre Bewegungen linkisch, kryptisch, wie von nicht zu Ende entwickelten Körpern. Den Kopf in der Armbeuge versteckt, suchen sie Schutz beieinander: Es scheint eine Art genetischer Urschlamm, aus dem Ventriglia die Herren von York und Lancaster hervorkriechen läßt. Bis sie am Ende zurückschlüpfen dürfen, in Särge aus weißem, lappigem Plastik.

Schmerzdurchdrungen ist das Wälzen, Wiegen und Wogen von Paaren, die sich wie Boote aufeinander zuschieben. Frauen werden von schwarzen Kapuzenmännern hereingebracht und als Gebärmaschinen geopfert: Zwischen Föten in Gläsern rollt man sie einige Zuckungen später wieder hinaus. Eine andere verschanzt sich ängstlich zitternd im Drahtkäfig ihres Reifrocks, der auch ihrem König einziger Unterschlupf vor der bösen Welt draußen zu sein scheint. Kurzum: Niemand darf auf die Bühne, der nicht Opfer seiner Rolle ist. Es sei denn als Verkörperung der bösen Mächte: Schwarz gekleidet natürlich und vorzugsweise weiblich besetzt, zieht und zerrt das dann an den bleichen Königen.

Das ist nicht als Parodie gemeint. Ventriglia baut seine Stücke mit der Ernsthaftigkeit eines Wahrheitssuchers. Die Musik von Jörg Laue, die feudale Pracht mit schaurigen Effekten mischt, treibt das Stück über anderthalb Stunden bruchlos voran. Da freut man sich wieder auf die Spektakel der Theatermacher, denen es wenigstens nicht an Bewußtsein von dem Abstand zwischen dem historischen Stoff und ihren Phantasien fehlt. Katrin Bettina Müller

„Anatomie der Könige“. New Globe im Prater, Kastanienallee 7–9; Aufführungen am 12., 16., 20., 22. und 26. Juni um 20 Uhr