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Die Themenparks der Jugend

Konfliktscheu ins Jahr 2000: Auf der 48. Biennale in Venedig sieht man vor allem Kunst, die sich aus den Problemzonen zurückgezogen hat. Dafür wurde der zur internationalen Kunstzone erklärte italienische Pavillon mit dem Hauptpreis renationalisiert  ■ Von Harald Fricke

Der Künstler unserer Tage ist vielseitig. Er kann Häuser bauen und ganze Städte entwerfen; er kann Gärten anlegen und gesündere Nahrung zubereiten; er kennt sich in Therapiekursen aus, weiß, wie man Füße gesundmassiert, und kann Ökosysteme durch Recyclingprojekte retten. Er kann sogar Staaten gründen und, wenn es denn ein Krieg wie der im Kosovo notwendig macht, seine Ausstellungsräume zu Flüchtlingslagern erklären. In dem Bestreben, Wissen, Erfahrung und Visionen zu vermitteln oder gar voranzutreiben, gleicht dieser Typus dem forschenden und experimentierenden Künstler der Renaissance. Liegt es deshalb nahe, wenn zur letzten Biennale vor dem Jahr 2000 in Venedig noch einmal ein universalistisches Denken, wie es von Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer oder Michelangelo praktiziert wurde, im Mittelpunkt einer Ausstellung steht?

Venedigs Bürgermeister, der italienische Philosoph Massimo Cacciari, hat sich zumindest ein solches Signal von der diesjährigen Biennale gewünscht. Für ihn spiegelt die künstlerische Sicht auf die Welt zwar auch nur die bekannten Vielheiten und Kontingenzen wieder; doch mit der Sprache, in der dieses Dilemma – Cacciari nennt es „Informatisierung“ – reflektiert wird, hat der Künstler ein eigenes Modell, um Wissen und Erfahrung zu vermitteln. Was in der Renaissance an humanistischem Gedankengut den Dogmen einer allmächtigen Kirche abgetrotzt wurde, steht, so sieht es Cacciari, in Zeiten von Massenkommunikation allerdings auf der Kippe: Läßt der Mensch sich auf die vollständige Kapitalisierung von Codes und Images ein, wird er untergehen. Wenn die Maschine denkt, wer ist dann Ich?

Gleich auf der ersten Seite des Katalogs zu „dAPERTutto“ hat Biennale-Chefkurator Harald Szeemann dem klagenden Philosophen mit einhundert Definitionen seiner Ausstellung geantwortet: Sie sei „atelier of the future“, „manifest solidarity“, aber auch „western beauty in Zen“ oder bloß „yet another saint“ – und alles zugleich. Tatsächlich ist Szeemanns Entwurf ein fragmentarisches Puzzle der Menschen und Dinge, laut und sehr lebendig. Doch den allumfassenden Anspruch sucht man in dieser Konzeption vergebens. Anders als in der Renaissance, die mit ihrem Wissen einen großen Bogen um die Welt spannte, weiß der Künstler heute von allem nur ein bißchen.

Szeemann muß das Mißverhältnis gespürt haben. Seine „dAPERTutto“-Inszenierung als Schwerpunkt neben den Länderpavillons in den Giardini erstreckt sich über alte Schiffshallen und stillgelegte Bootsfabriken, bezieht die Kunst der Welt von China bis nach Afrika mit ein und läßt jede und jeden nebeneinander bestehen. Von den grob aus rosa Stoffetzen vernähten Körperskulpturen der 1911 geborenen Louise Bourgeois (sie erhielt in diesem Jahr den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk) kommt man in einen Videoraum, den der 53 Jahre jüngere Philippe Parreno im Kollektiv mit Dominique Gonzalez-Förster und Pierre Huyghe – beide auch Kinder der sechziger Jahre – gestaltet hat. Und von Bruce Naumans etwas fadem Video zum Hals-, Nasen- und Ohrenpopeln ist es nur ein Katzensprung zur Box von Doug Aitken, der in vier Mehrfachprojektionen einen schwarzen Nightclubber zwischen Apathie und Raserei zeigt. Während Nauman immer weiter seine zähen Körperstudien betreibt, nutzt der 1968 geborene Aitken alle technischen Mittel, die im Videobereich möglich sind, um eine alltägliche Geschichte zu erzählen. Im Gegensatz schwingt auch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis mit: Was bei Nauman ironisch und in Zeitlupe gefilmt unter Selbsterfahrung firmiert, wird von Aitken in ein Bekenntnis zur Ekstase umgemünzt – „that's the only Now I get in“ sagt der Tänzer, ehe er vor dem Fernseher wegdöst. Doch der Beat hämmert weiter nervös im Kopf. Offenbar kann man mit beiden künstlerischen Sichtweisen gut leben: Für Nauman gab es von der Jury einen weiteren Lebenswerk-Löwen, Aitken wurde mit einem der drei Nachwuchspreise ausgezeichnet.

Es ist vor allem die unterschiedliche Geschwindigkeit des Lebens, an der sich die Wege der Generationen trennen. Selbst Arbeiten von KünstlerInnen wie Jenny Holzer, Martin Kippenberger oder Katharina Fritsch, die mit den Massenmedien und Strategien von Pop groß geworden sind, wirken überholt neben den Themenparks der Jugend. Ob Globalisierung, Gender-Debatte, Urbanismuskritik oder Dekor – jeder Diskurs und jede Nische des Denkens ist willkommen, solange man sich nicht auf eine Position festlegen lassen muß. Der Künstler von heute driftet nicht von Ort zu Ort, sondern von Idee zu Idee. Statt Konflikte auszutragen, weicht man vor den Realitäten zurück, gibt halbherzige Kommentare zu den diversen Problemzonen ab und verläßt sich auf die Lobbyarbeit von Museen und Galerien: Irgendwer wird in die Gemengelage aus Fluxus, Patchwork, Popästhetik und Lifestyle-Philosophie schon eine Meinung, wenn nicht gar System hineinlesen.

Hierarchien und Ideologien werden durch ein flatterhaftes Sowohl-Als-auch ersetzt. Man schnuppert ein bißchen in Texte von Deleuze/Guattari hinein und gibt sich ansonsten nomadisch bis schizophren: Wim Delvoye läßt einen verzierten Zementlaster aus indonesischem Teakholz herstellen, damit sich flämische Ornamentik und die Sorge um gerodete Regenwälder begegnen können; Zhou Tiehai klagt den Kulturalismus, mit dem der Westen nach China drängt, als Fortsetzung des Kalten Krieges an und wird dafür von der Schweizer Galerie Urs Meile vertreten. Es ist ein Pragmatismus, der sich aus den eigenen Produktionsbedingungen herleitet, wie es über die Arbeit von Michel Majerus heißt. Der in Berlin lebende Maler hat plakativ Logos zum Kunst-Event auf die Frontseite des italienischen Biennale-Pavillons geschrieben.

Mitunter liegen die Widersprüche nicht erst in der Anschauung. Schon die willkürlich aneinandergereihte Präsentation einiger Arbeiten löscht jeden Kontext aus. Kutlug Atamans Videorecherche über krebskranke Frauen und Transsexuelle, die aus Unsicherheit gegenüber dem körperlichen Makel Perücken tragen, wird von einem Libretto überdröhnt, mit dem die im Exil lebende Iranerin Shirin Neshat auf zwei parallelen Filmprojektionen darlegt, daß in islamischen Kulturen Frauen weiter unsichtbar bleiben. Durch den akustischen Wettstreit Wand an Wand verlieren beide Positionen, die man gerade wegen ihres vergleichbaren Anliegens hätte entzerren müssen. Am schlimmsten hat es allerdings den Schweizer Thomas Hirschhorn getroffen: Seine überbordende Installation „World Airport“, die sich mit Militarismus, Globalisierung und internationalem Kapital beschäftigt, wurde hinter einem übergroßen Trommel-Ensemble des Chinesen Chen Zhen aufgebaut. Während hier das Publikum mit Holzklöppeln selbst kreativ am Schlagzeug tobt, kann man sich bei Hirschhorn kaum auf die ausgebreiteten Texte konzentrieren. Dabei hängen zum Beleg der Krise des Politischen Hunderte französisch-, englisch- und deutschsprachige Zeitungsschnipsel aus, die das Debakel globaler Interessenverflechtung vom Palästina-Konflikt bis zum Kosovo-Krieg dokumentieren. So bleibt es beim Staunen über die Fleißarbeit in Sachen Aufklärung.

Bei allem Wunsch nach Einmischung hat auch Hirschhorns Mammutanalyse eine Schwäche, die sie mit anderen Biennale-Beiträgen teilt. Der Wust an Informationen geht mit einer fast fetischistischen Liebe zum Detail einher. So wie Hirschhorn alles, was er sammelt, unmittelbar in Beziehung setzen muß, ohne dabei den eigenen Zugriff mit zu zeigen, verzichten auch Jason Rhoades und Paul McCarthy bei ihrer großangelegten Koproduktion auf jeden Überblick und werfen mit Material um sich. Die jungshafte Ausschweifung zu Sex und künstlerischer Obsession bedeutet hier: noch mehr Gummimatten, noch mehr Farbpfützen und noch mehr Bauteile aus dem Heimwerkermarkt. Der produktionstechnische Overkill setzt sich dann bei Costa Vece fort, dessen auf hip getrimmte Fernsehlounge aus gestapelten Pappkartons besteht. Die Einrichtung paßt in die Grauzone zwischen Kunst und Unterhaltung.

Von der Jury wurde dagegen Cai Guo-Qiangs Rückgriff auf die Geschichte der Kulturrevolution mit einem Preis belohnt. Seine Massenproduktion von Bauern-

und Arbeiterhelden ist an die Utopie des „langen Marsches“ gebunden, dessen Scheitern Cai ironisch abfedert. Die Figurengruppe wurde in den sechziger Jahren zu Propagandazwecken in Auftrag gegeben, jetzt bildet sie das desolate Verhältnis Chinas zur eigenen Identität ab: Der monumentale Mao-Kitsch trug immer schon Züge der Terrakottakrieger, die dem Kaiser ins Grab beigegeben wurden. Tatsächlich bestechen aber auch die Künstler des neuen China eher durch sauberes Handwerk, während gesellschaftliche Veränderungen auf persönliches Leid reduziert bleiben. Die massive Präsenz von Chinesen auf der Biennale, von Szeemann als Öffnung und Wandel deklariert, entpuppt sich so als kalkulierte Anbiederung an westliche Klischees eines korrupten China, an der genau dieser Westen eifrig mitarbeitet. Schon jetzt sind fast alle ausgestellten chinesischen Künstler bei Galerien in der Schweiz oder Frankreich unter Vertrag. Für Sammler mit asiatischen Vorlieben könnte die Biennale ein Schnäppchenmarkt werden. Rirkrit Tiravanija hat diesen Ausverkauf zumindest erkannt und einen temporären thailändischen Pavillon in unmittelbarer Nachbarschaft zu dem der USA gegründet.

Bei den Länderschwerpunkten wiederholt sich die Konfliktscheuheit der „dAPERTutto“ mit umgekehrten Vorzeichen. Um sich als weltoffen zu präsentieren, hat Dänemark besagten Jason Rhoades eingeladen, der mit dem eher konventionellen Maler Peter Bonde einen Parcours über Stock Car-racing gebastelt hat. Außer Rhoades Begeisterung für teure Videoanlagen ist hier überhaupt kein Plan mehr zu erkennen. Für Österreich wiederum hat Peter Weibel fünf völlig disparat politisch agierende Gruppen und KünstlerInnen eingeladen: Peter Friedl hat eine Garage hingestellt, um gegen den „halbfaschistischen“ Pavillonbau zu opponieren; bei Rainer Ganahl wird man ermahnt, sich mehr mit den Sprachen unterdrückter Ethnien zu beschäftigen; WochenKlausur wollen Kosovo-Flüchtlinge in Englisch schulen; und Christine & Irene Hohenbüchler haben gar eine Holzhütte für vertriebene Mütter und ihre Kinder gebaut, in der man ursprünglich ganz leise „Imagine“ von John Lennon hören sollte. Die totale Mobilmachung im Dienst des Sozialen ist für Weibel der Beweis, daß sich Österreich mit dem „transnationalen kollektiven Projekt“ einmal mehr als Avantgarde präsentiert.

Besonders heikel wird der Länderwettbewerb allerdings mit dem Beitrag Italiens. Weil Harald Szeemann eine weltoffene Biennale zeigen wollte, wurde der italienische Pavillon exemplarisch zur internationalen Kunstzone erklärt. Eine folgenschwere Entscheidung: Die italienische Presse fürchtete einen Gesichtsverlust der heimischen Kunst und schoß zurück, sogar vom Niedergang der Kulturnation war die Rede. Das Ergebnis ist ein fadenscheiniger Kompromiß. Nicht der neu konzipierte Künstlermix, sondern fünf über die „dAPERTutto“ verstreute KünstlerInnen durften Italien im Kulturkampf der Nationen repräsentieren. Als am Samstag die Jury ihre Gewinner bekanntgab, ging der Hauptpreis an ebendiesen italienischen Pavillon, für „den Mut und die Innovation“, mit denen Szeemann bei seiner Umstrukturierung der Biennale vorgegangen war.

Unangenehm ist an dieser Mogelpackung, wie sehr Szeemanns angeblich staatenübergreifende Ausstellungspolitik sich am Ende nationalem Prestigedenken untergeordnet hat. Darin zeigt sich auch eine Nichtachtung all jener KünstlerInnen aus aller Welt, die sich für die Community-Idee begeistern konnten – im Ernstfall heißt es: Italien zuerst. Daß in der Jury neben japanischen oder slowenischen KuratorInnen auch der kommende documenta-Macher Okwui Enwezor aus Nigeria gesessen hat, macht die Sache nicht besser. Mehr noch muß man sich aber über die fünf ausgewählten Künstlerinnen Monica Bonvicini, Bruna Esposito, Luisa Lambi, Paola Pivi und Grazia Toderi wundern, die im Namen einer vorgeblichen Political Correctness den Preis für ihr Land in Empfang genommen haben. Sie hätten ihn zurückgeben müssen – oder ihn wenigstens mit den anderen 97 KünstlerInnen symbolisch teilen können, zwischen denen sie in der Vorbereitungszeit über Wochen gleiche unter gleichen waren. Jetzt ist die als Neuerung angekündigte „dAPERTutto“ bloß ein Promotiongag geworden. Zur nächsten Biennale in Venedig wird Szeemanns kurzer Sommer der Künstlerkolonie vermutlich vergessen sein. Schließlich nimmt man es in der Kunst mit den Ideen nicht so genau.

Bis 7. November 99. Katalog: 100.000 Lire

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