Der Traum der Baustellenmatrosen

Sechs arbeitslose Bauingenieure aus Sachsen steigen heute in eine Bundeswehrmaschine nach Bosnien. Sie sollen das kriegszerstörte Bosnien mit aufbauen. Wie man wieder werktätig wird – erst einmal  ■   Von Annett Müller

Wolfram Jokisch hat ein Eigenheim. Da hat er Jahre reingesteckt. Jokischs Haus steht im sächsischen Langburkersdorf. Robby Schurig hat sich hingegen eine Wohnung gemietet, in Zwickau. „Ich mach mir doch nicht den Streß und bau mir ein eigenes Haus“, sagt er. Das also unterscheidet etwa Jokisch und Schurig. Gemein haben sie dafür etwas anderes: Beide sind Bauingenieure. Beide haben über Monate zu Hause gesessen. Beide haben die Wände des Eigenheims, der Mietwohnung angestarrt und gedacht, „da muß doch noch was kommen im Leben“.

Da kam aber erst einmal nichts.

Jetzt sind Schurig und Jokisch Kollegen. Heute beginnt ihr Einsatz. Da fliegen also sechs sächsische Bauingenieure mit einer Maschine der Bundeswehr von München ins Feldlager der deutschen Truppen in Rajlovac in der Nähe von Sarajevo. Dort beteiligen sich die Bauingenieure an einem zivil-militärischen Projekt der Bundeswehr. Sie haben den Auftrag, das vom Krieg zerstörte Bosnien mit aufzubauen.

Das heißt, sie koordinieren Bauprojekte, die hauptsächlich in der Republika Srpska liegen. Zerbombte Wohnhäuser sind ihre Baustellen. Krankenhäuser und Schulen sollen folgen. Dazu braucht man Fachmänner und nicht nur Soldaten, hieß es Anfang Januar bei der Bundeswehrtruppe in Bosnien. Zu jener Zeit besuchte Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) die Truppe und sagte, man sollte arbeitslose Baufachleute für solche Aufgaben gewinnen. Es ist zunächst einfach nur ein Nebensatz, wenig später wird es zur Hauptmeldung in den Medien, und noch später kann die sächsische Regierungszentrale das Arbeitslosenproblem in der Baubranche ganz nah miterleben.

An jenem Januartag sitzt Jokischs Frau Gabriele im Wohnzimmer und sieht fern und dabei „unseren Herrn Biedenkopf, umringt von ein paar Armeeleuten. Da hat er das Thema angesprochen. Ich dachte, ich hör' nicht recht“. Schließlich hat ihr Mann die nötigen Voraussetzungen: Er ist Bauingenieur, er ist arbeitslos. Der Ministerpräsident ist noch nicht wieder in Dresden eingetroffen, da haben sich bereits 70 Arbeitslose in der Staatskanzlei gemeldet. „Das haben wir gleich bei unserer Ankunft erfahren“, erzählt Regierungssprecher Michael Sagurna. „Da waren wir erst noch erfreut, weil wir dachten, das sind 70 Bauingenieure.“ Unterdessen meldeten sich bei den sächsischen Arbeitsämtern Hunderte weitere Arbeitslose. In der Schlange standen auch Jokisch und Schurig.

Erst im April ward klar, wer das Projekt finanziert: Von Bund, Land und der Bundesanstalt für Arbeit kommen eine Million Mark. Der Europäische Sozialfonds zahlt die Qualifizierung. Ausgesucht wurden sechs Bauingenieure, die bezahlt werden, „wie Fördermaßnahmen eben bezahlt werden“, sagen sie. Mehr dürfen sie laut Vertrag nicht andeuten. Im Oktober folgen sechs weitere Bauingenieure. Mehr werden nicht gebraucht. „Wir wollten mit dem Projekt auch nicht unser Arbeitslosenproblem lösen. Wir wollten der Bundeswehr in Bosnien aushelfen“, sagt Sagurna. Alle anderen Bewerber bekamen schriftliche Absagen. Wie immer.

Wolfram Jokisch und Robby Schurig aber sind dabei. Jokisch ist mit 52 der älteste in der Bosnien-Gruppe. Schurig ist 40 Jahre. Eines davon war er arbeitslos.

Schurig sitzt im Wohnzimmer. Er teilt sich die schwarze Ledercouch mit Sofakissen und Plüschtieren. Die sind ganz nach dem Geschmack der Freundin. Schurig sitzt also. Bei der Haltung kann er zum Beispiel seine Arme gut auf dem Bauch ablegen. „Die Trommel hab ich erst im letzten Jahr bekommen. Die Zeit war einfach frustrierend.“

Schurig raucht. Polnische Kopien. Dazwischen trinkt er Kaffee oder spricht. Sein Mund hat immer was zu tun. „Ich weiß, daß ich gut bin“, sagt der Bauingenieur, „aber ich habe hier einfach keine Chance mehr bekommen.“ Nun geht er also nach Bosnien. „Gut, das ist ein Krisengebiet. Das muß man halt schlucken. Hauptsache, für mich geht's persönlich weiter.“ Die längste Zeit war Schurig Bauingenieur bei der Nationalen Volksarmee. Nach der Wende arbeitete er bei der Firma seiner Freundin. Baustellen waren sein Leben. 14 Stunden am Tag. Sie hatten einen Auftraggeber, 20 Beschäftigte, sie hatten Aufträge für die nächsten vier Jahre. Alles wunderbar, bis sie vom Bauträger einfach nicht mehr ausgezahlt wurden. Ende 1997 kommt der Konkurs.

Die Freundin wird arbeitslos, Schurig auch. „Ich habe jeden Tag 'ne Baustelle hier in der Stadt gesehen. Und ich hab' gesehen, wieviel Mist die da fabrizieren. Ich dachte ständig, das kann ich besser.“ Das wollte nur keiner wissen. Schurig bewarb sich für Nigeria, in Westdeutschland, zuletzt in Zwikkau. Jedesmal Absagen. Wie oft? Zu oft.

Schurig muß sich qualifizieren. Er sitzt mit den anderen im kahlen Klassenzimmer einer Dresdner Qualifizierungsschule. Dort werden sie zu EU-Bauingenieuren ausgebildet. Das heißt, Unterricht in Computer-Projektierung, in europäischem Baurecht, im Umgang mit dem Internet. Freitags morgens etwa stellt Ausbilder Fredi Krause die Aufgaben: Sanieren Sie theoretisch ein erheblich beschädigtes Wohngebäude einer Großfamilie. Baustelle Bosnien. Die Männer sitzen vor Grundrissen. Sie sitzen vor einem Haus, das von einer Bombe getroffen wurde. Auf dem Papier. In Wirklichkeit haben sie das auch noch nicht gesehen. Sie entscheiden, was noch zu retten ist. Krause erzählt von seiner Zeit auf russischen Baustellen. Er sagt, „Männer, Sie haben weiterzudenken. Häuser, das habe ich selbst erfahren, sind der Inbegriff für Heimat“, spricht er. „Sie dürfen also in Bosnien nicht Provisorien bauen lassen.“ Die Männer notieren nichts. Aber von einem wie Krause lassen „die Männer“ sich das sagen.

„Andere haben uns behandelt wie Ossis, die nach der Wende nichts mehr mitgekriegt haben. Nur weil wir arbeitslos waren“, sagt Schurig. Das hat er klarstellen müssen bei einer Feierstunde in der Qualifizierungsschule. Zu Gast sind Wirtschaftsministerium, Regierungspräsidium, Landesarbeitsamt. Es gibt ein Buffet, vorher Reden. Auch Schurig soll eine halten. So wünscht es sich die Bildungseinrichtung. Wofür, fragt er sich. „Dafür, daß man uns Arbeit gegeben hat?“ Schurig redet trotzdem. Also, erst einmal ein Danke, daß das Projekt finanziell gefördert wurde. „Und dann sagte ich, wir waren arbeitslos. Gut, aber nicht weil wir Versager waren. Wir waren arbeitslos, weil es keine Arbeit gibt.“ Und aus. Kein Beifall. Nur später dann den von Jokisch, der meint: „Gut, daß du das gesagt hast.“

Wolfram Jokisch ist kein Redner. Er antwortet nur, wenn er gefragt wird. Seit 28 Jahren ist er Bauingenieur. Sechs Jahre davon war er auf Baustellen im Ausland. „Mutter, bringst du bitte mal die Bilder von Libyen und Rußland?“ Seine Frau fühlt sich angesprochen. Jokisch sitzt im Wohnzimmer. Er ist ein Mann, der von der Körpergröße her immer zu den kleinsten gezählt haben muß. Die Fotos liegen jetzt auf dem Tisch. Sie zeigen Siloanlagen, Rinderställe in Libyen und in Rußland. Dieser Mann kann also sagen, lassen sie uns Tausende Kilometer fahren, und ich kann ihnen immer noch was von mir zeigen.

Jokisch erzählt. Und irgendwie wächst er gerade. Schließlich hat er das, was kein anderer in der Bosnien-Gruppe hat: Auslandserfahrung. Das heißt auch, „sich anderen Mentalitäten anzupassen“, sagt Jokisch, „sonst ist es aus mit der Verständigung“. Und jetzt kommt Bosnien. „Da wird es auch nicht viel anders sein“, meint Jokisch.

Seine Frau sitzt mit am Tisch. Sie blickt aus dem Fenster die meiste Zeit über. Gabriele Jokisch hört die Lebensgeschichte ihres Mannes. Zum wievielten Mal wohl? Er hat ständig verdient. Kam er aus dem Ausland zurück, „stand er irgendwie erst mal im Weg“, fand sie. Dann mußte sie wieder lernen zu teilen, das Haus, die Kinder, die Verantwortung.

Im Dezember vergangenen Jahres kam der Stillstand. Jokisch wurde arbeitslos.

Seine Frau ist es schon lange. Das Haus zehrte Geld. Irgendwie mußte es aber weitergehen. Jetzt hat „wenigstens einer wieder Arbeit“, sagt Gabriele Jokisch. „Es ist in Ordnung, daß er geht, so lange das vom Kosovo nicht auf Bosnien übergreift.“

„Wir haben die Männer nicht nur fachlich geprüft, sondern auch, ob ihre Familien hinter ihnen stehen“, sagt Paul Jakubczyk, Chef der Projektierung und Controlling GmbH in Dresden. Dort sind die Männer angestellt. Jakubczyk war selbst drei Jahre in Bosnien unterwegs und hat im Auftrag der Vereinten Nationen ein Arbeitsförderungskonzept für die Region erstellt. Dann unterrichtete er die Bauingenieure. Sie sollten lernen, wie sie an Fördergelder kommen und daß sie auf alle Fälle die Bauaufträge an einheimische bosnische Firmen vergeben. Um des Friedens willen.

Robby Schurig sitzt im Wohnzimmer. Bosnien ist irgendwie weit weg. Nach der Wende war der Westen auch weit weg. Aber Schurig ist damals schon dahin gegangen, „wo noch was aus mir werden konnte“. Und jetzt also nach Bosnien. „Die sollen sagen, guckt mal, das hat der Schurig gebaut. Dann kann ich mir auf die Schulter klopfen.“

Schurig redet, redet. Daß er die Männer in der Gruppe schon mal psychisch getestet habe. „Schließlich müssen die in Bosnien auch was aushalten können“, sagt Schurig, der Gruppenchef ist. Den spielt er auch ununterbrochen. Kennen Sie eigentlich schon den Witz aus unserer Gruppe? „Nur gut, daß wir alle so dicke Bäuche haben. Ohne die würden wir ständig nach unten sehen und denken, mein Gott, da ist ja schon wieder 'ne Mine.“ Schurig lacht.

Seine Freundin, Antje Muhsold, hört stillschweigend zu. Die ganze Zeit schon. „Was sagen Sie eigentlich dazu, daß er nach Bosnien geht?“ Sie antwortet zwei Sätze lang: „Sie hätten ihn erleben müssen, als er arbeitslos war. Aber klar, ich habe Schiß.“

Das dauert Schurig schon zu lange. Jetzt redet er wieder. Für sie eben. Daß sie sich auf dem Balkan nicht wohlfühlen würde. Er redet fünf Minuten lang. „Ja, so ungefähr“, wird Antje Muhsold später sagen. Schurig spricht vom Balkan wie von künftig blühenden Landschaften. Die er mit kultiviert. „Für mich stehen jetzt alle Wege offen.“

So denkt auch Wolfram Jokisch. Seine Frau Gabriele sitzt neben ihm und blickt aus dem Fenster. Ihr Mann redet von zukünftigen Kontakten. In Bosnien werden sie jede Menge Arbeit finden oder Firmen, die sie anheuern. Vielleicht für Afrika oder nach Südamerika, wie er sagt.

Jokisch, der Baustellenmatrose.

Seine Frau, die Mutter, wird derweil das Haus hüten und warten. So geduldig, wie sie jetzt gerade aus dem Fenster blickt. Ihr Mann erzählt, daß er ohne Arbeit viel länger nicht hätte sein können. Zum Glück sei Bosnien gekommen. „Manchmal muß man ein bißchen warten, bis man solch eine Chance bekommt“, sagt er.

Ihr Blick kehrt vom Fenster zurück auf sein Gesicht. Sie spricht. Sie sagt: „Ich warte nun schon seit 1991.“

Beide haben die Wände daheim angestarrt und gedacht, „da muß doch noch was kommen im Leben“. Da kam aber erst einmal nichts.