Ein harter Wettlauf um die Spendengelder

■  Wo immer eine Katastrophe ausbricht – in Deutschland konkurrieren sofort mehrere Organisation um die Spendengelder. Kleine Hilfswerke gehen dabei oft leer aus. In der Schweiz hingegen wird zentral gesammelt

Wo immer in der Welt eine Katastrophe hereinbricht – die Schweiz ist vorbereitet. „72 Stunden genügen, um einen nationalen Sammeltag zu starten“, sagt Roland Jeanneret von der „Glückskette“. Der klingende Name gehört einer Stiftung der Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft. Nach dem Prinzip: „Ein Topf für alle“ koordiniert sie seit 1946 landesweit Geldsammlungen für Katastrophenfälle. Die Spenden leitet sie weiter an Hilfsorganisationen, die in der Lage sind, vor Ort mit konkreten Projekten schnell zu helfen. Die Stiftung kontrolliert auch, für welche Projekte das Geld verwendet wird.

Anders in Deutschland: Wer am lautesten ruft, den besten Draht zu den Medien hat, bekommt das meiste Geld. Davon profitieren vor allem die großen Hilfswerke wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die Diakonische Werk oder die Caritas. Kleine Organisationen mit sinnvollen Projekten gehen leer aus oder, auch das gibt es, sie ertrinken im Geld.

Beispiel Kosovo: Als die ersten Vertriebenen über die Grenze nach Albanien kommen, setzen sich in der Schweiz Helfer und Medienleute zusammen und organisieren vier nationale Sammeltage. Über den Rundfunk wird eine Telefonhotleine geschaltet. 47,4 Millionen Franken (knapp 60 Millionen Mark) treffen ein. Das Geld wird an Organisationen weitergeleitet, deren Kapazität sinnvolle Projekte vor Ort erlauben. Was genau mit den Spenden geschieht, steht im Internet. Dort sind alle Hilfswerke mit ihren Projekten aufgelistet, inklusive der erhaltenen Spendensummen.

Auch in Deutschland wird gespendet. Durch Spendenaufrufe verschiedener Hilfswerke kommen insgesamt mehr als 220 Millionen Mark zusammen. Die Rekordsumme verteilt sich vor allem auf die Großen: Das DRK sammelt etwa 74 Millionen Mark, die Caritas 47 Millionen, das Diakonische Hilfswerk meldet 23 Millionen. Doch auch kleine Hilfswerke bekommen ihre Chance – vorausgesetzt, sie verfügen über gute Kontakte zu den einflußreichen Medien. Das Notärztekomitee Cap Anamur ist so ein Fall: Ein einziger Fernsehauftritt brachte dem Komitee, das in Köln nur zwei feste Mitarbeiter beschäftigt, mehr als 35 Millionen Mark für die Kosovo-Vertriebenen. Bis heute sammelte es über 55 Millionen Mark. Die kleine Organisation gibt zu, daß sie Jahre brauchen wird, die Gelder sinnvoll auszugeben.

Auch die Kontrolle der Hilfsorganisationen läuft unterschiedlich. Die Deutschen geben auf Anfrage Auskunft darüber, was sie mit dem Geld machen. Vor Ort kontrolliert niemand. In der Schweiz werden Projekte vor ihrer Realisierung von der „Glückskette“ geprüft – erst dann fließt das Geld. Bis zu 90 Prozent der Kosten eines Projektes kann die Stiftung übernehmen. Viele Projekte werden von der Stiftung regelmäßig überprüft. Als Ende der 80er Jahre nach dem Erdbeben in Mexiko Geld für 312 neue Einfamilienhäuser gesammelt wurde, zählte ein Mitarbeiter der „Glückskette“ vor Ort nach – prompt stellte sich heraus, daß ein Haus fehlte. Das Hilfswerk mußte nachliefern.

Auch in anderen Bereichen sind die Schweizer genauer: Nur wer die Aufnahmekriterien der „Glückskette“ erfüllt, kommt überhaupt an den gemeinsamen Spendentopf. Dazu gehört, daß die Hilfsorganisationen ihren Sitz in der Schweiz haben, damit sie im Zweifel zur Verantwortung gezogen werden können. Rechnungen müssen offengelegt werden, die Eigenkosten dürfen 20 Prozent nicht überschreiten.

Heute gehören 23 Schweizer Hilfsorganisationen zur „Glückskette“. Untereinander konkurrieren sie ähnlich wie in Deutschland um die Gunst des Spenders. Bei den großen Sammeltagen der „Glückskette“ aber ziehen sie an einem Strang. Die „Glückskette“, die selbst nicht vor Ort tätig wird, beschäftigt landesweit acht feste Mitarbeiter und finanziert sich über Zinsen angelegter Spendengelder. Sie fördert auch kleine Organisationen mit vielversprechenden Projekten, wenn sie Patenschaften mit den großen Hilfswerken eingehen.

Obwohl das Schweizer Modell einige Vorteile bietet, wird es von den großen deutschen Hilfswerken einhellig abgelehnt. Hilfsbereite Menschen, heißt es überall, vertrauen ihre Spenden lieber einer konkreten Organisation an. Das Schweizer System dagegen fördere Anonymität. Diese Haltung bedauert Lutz Worch vom Deutschen Institut für Soziale Fragen. Das Institut ist eine Art TÜV für deutsche Hilfswerke. Worch ist ein Freund des Schweizer Modells. Sein wichtigster Grund: „Egal was passiert, die Menschen spenden nur eine bestimmte Summe pro Jahr. Und das geht zu oft nur an die großen Hilfswerke.“ Yvonne Wieden