■ Europa ist kein Projekt, es braucht ein Projekt
: Brüssel ist zweite Wahl

Es gibt viele Gründe, zu einer Europawahl zu gehen, die wenigsten bietet die europäische Politik. Und unter diesen wenigen finden sich wiederum viele, die allenfalls der staatsbürgerlichen Erbauung dienen, aber nicht dazu angetan sind, dem Willen der Staatsbürger konkreten Ausdruck zu verleihen. In augenfälligem Widerspruch zur Bedeutsamkeit, welche den europäischen Institutionen mittlerweile zugesprochen wird, stehen die Bedeutungslosigkeiten, mit denen die Parteien ihre Wähler zu gewinnen trachteten. Zu lange war man anscheinend gewöhnt, das Dasein der europäischen Institutionen als Qualität an sich zu betrachten, daß man sich kaum der Mühe unterzog, den Wählern klarzumachen, wozu man diese Kompetenz in den kommenden fünf Jahren zu nutzen gedenkt.

Zu augenfällig auch die Diskrepanz zwischen der Bedeutsamkeit der europäischen Sache und der Zweitrangigkeit des Personals, das nach Brüssel geschickt wird. Europapolitiker gelten in den Parteien noch immer als Personal zweiter Wahl, das Europaparlament gilt noch immer als Abklingbecken für jene, die daheim ausgebrannt sind. Und nun reibt sich die politischen Klasse verwundert die Augen darüber, daß der Wähler diese abstrakte Begeisterung für die Existenz Europas nicht teilt und in Ermangelung konkreter europäischer Politik sich seinen nationalen Anliegen zuwendet, um wenigstens dort Gründe für seine Wahlentscheidung zu finden.

Dabei lassen sich doch Beispiele finden für ein glaubwürdiges europäisches Engagement, das von den Wählern honoriert wurde. Der designierte Kommissionspräsident Romano Prodi etwa, der mit seiner Parteineugründung ebenso ein respektables Ergebnis erzielte wie der Deutsche Cohn-Bendit mit den französischen Grünen.

Am nachhaltigsten wurden für den Mangel an konkreter europäischer Perspektive diejenigen abgestraft, die doch am ehesten in der Lage gewesen sein müßten, daraus ein politisches Projekt zu formen. Seit der Wahl in Deutschland stand Europa unter der Hegemonie der Sozialdemokraten. Doch gerade diejenigen unter ihnen, die aus der schwindenden Bedeutung des nationalstaatlichen Handlungsrahmens am eindeutigsten das Erfordernis einer europäischen Antwort ableiteten, waren nicht in der Lage, diese Antwort verständlich zu buchstabieren. Wenn, von europäischer Warte aus betrachtet, Verlierer benannt werden sollen, dann heißen sie Tony Blair und Gerhard Schröder. Dieter Rulff