■ Europawahlen: Die SPD hat verloren – und Schröder wird versuchen, diese glückliche Niederlage zu nutzen
: Ende oder Wende?

I.

Europawahlen sind nationale Plebiszite über die jeweilige Regierung. Das war immer und das ist überall so. Das Ergebnis vom 13. Juni duldet keinen Zweifel: Die SPD hat ihr schlechtestes, die CDU/CSU ihr bestes Resultat bei einer solchen Wahl errungen. Die Bündnisgrünen sind noch einmal davongekommen. Die PDS sammelt ein, was altes Milieu und neue Umstände hergeben. Mit Europa hat das Ergebnis nichts, mit dem Krieg im Kosovo wenig, mit dem Ärger über eine wirtschafts- und gesellschaftspolitisch mehr schlecht als recht amtierende Regierung hingegen alles zu tun.

Vor fünf Jahren haben die Europawahlen einen politischen Klimawechsel angezeigt, und die SPD verlor auch die folgende Bundestagswahl. Auch jetzt läßt sich eine einfache Bilanz ziehen: Dieser Bundesregierung wird kein Erfolg mehr beschieden sein. Beginn eines langsamen Niedergangs? Ende oder Wende?

II.

Keiner hat das so schnell begriffen wie der Kanzler selbst. „Wir haben verstanden“, verkündete er gut gelaunt allen, die ihn und seine Partei nicht gewählt haben. Was hat Schröder verstanden? „Daß wir in der Innen- und Wirtschaftspolitik genauso gut werden müssen wie in der Außenpolitik.“ Das freilich ist nur die halbe Wahrheit. Verstanden hat der Kanzler vor allem, daß es auf die richtige Mischung, den Zeitpunkt und den „Ort“ von Sieg und Niederlage ankommt, will die SPD den direkten Abstieg in die Position einer strukturellen Minderheitenpartei vermeiden.

Tony Blair, der britische Premier, hatte vor und auf Parteitagen Old Labour in die Schranken gewiesen. Gerhard Schröder wird das gleiche mit und nach Wahlniederlagen versuchen: Er wird sie instrumentalisieren zur Disziplinierung der alten SPD. Ohne neue SPD keine neue Mitte – und kein Erfolg bei Wahlen. Der große Oskar ist gegangen, die kleinen sind geblieben. So sind es „glückliche Niederlagen“, solange sie der Neuen Mitte und ihrem großen Zampano endlich zum Durchbruch verhelfen.

Es ist ein politisch riskantes Spiel, das da abläuft, für den soziologisch interessierten Beobachter freilich nicht ohne Reiz, ein soziales und politisches Großexperiment, das man in die Fragen fassen könnte: Sind Parteien lernfähige Wesen? Was sind die förderlichen Bedingungen, was die schier unüberwindlichen Blockaden? Sicher ist nur, wie kollektive politische Lernprozesse nicht mehr laufen: über das Innenleben einer Partei. Offen bleibt, ob man über eine öffentliche Debatte eine Partei neu orientieren kann. Diesem Versuch diente das Positionspapier von Blair/Schröder.

Raffinierter, riskanter, aber, wenn es gelingt, auch erfolgreicher dürfte es da schon sein, auf den Leidensdruck, sprich: auf Wahlniederlagen und ihre Folgen zu setzen. Es bliebe freilich noch eine andere Methode. Sie setzt Politik und politische Führung voraus. Man kann sie bei jedem halbwegs erfolgreichen Unternehmensberater abschauen. Um einen Betrieb oder eine andere Institution, eine Partei oder ein Land auf einen neuen Weg zu bringen, braucht es starke und verbindende, realistische und inspirierende Ziele, die man erreichen will und kann – und auf die hin die Kräfte und Anstrengungen dann neu gebündelt werden. Kann, darf man das Blair/Schröder-Papier so lesen, oder ist diesem Kanzler so etwas am allerwenigsten zuzutrauen? Man wird es bald wissen.

III.

Eine andere Partei hat auf einem anderen Gebiet gelernt, in der Gegenwart anzukommen. Die Grünen haben sich von der Friedensbewegung der frühen Jahre, die sich vor allem ex negativo definiert hat (keine Nachrüstung, Frieden schaffen ohne Waffen), unter dem Zwang der Verhältnisse zu einer „Friedensordnungsbewegung“ (Joscha Schmierer) weiterentwickelt, nicht ohne Schmerzen, nicht ohne Verluste. Entscheidend dafür war ein Außenminister, der für sein Land glaubwürdig eine starke Vision formuliert hat: keine ethnischen Säuberungen mehr mitten in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts.

Aber Kriege sind teure Lehrmeister für kollektive Lernprozesse, Ultima ratio allenfalls in der internationalen Politik, nicht zuhanden für gesellschaftspolitische Innovationen. Dilemma und Chance der Grünen lassen sich theoretisch leicht formulieren, doch auf der Bonner/Berliner Bühne ist nichts und niemand zu sehen, der daraus praktische Konsequenzen ziehen könnte: Die Bündnisgrünen brauchen eine Politik und Personen, die für die Gesellschaftspolitik das leisten, was die vergangenen Monate ihr in der Außenpolitik gebracht haben: eine politische Integration auf neuer Grundlage. Als altlinke Partei, nach allen Seiten offen, aber für keine attraktiv, quotenstark, aber ideenarm: so werden sie keine Zukunft haben, nicht in der Regierung, nicht in der Gesellschaft. Nur als treibende Kraft der gesellschaftspolitischen Modernisierung bleiben die Grünen unterscheidbar, können sie bei Wahlen ihre Potentiale ausschöpfen und auch politisch-konzeptionell überzeugen, wenn es ihnen etwa gelingt, Solidarität neu zu begründen, ohne die neue Arbeitswelt in die alten Formen zu pressen, und Liberalität, ohne auf eine Interessen- oder Altmilieupartei zu regredieren.

Joschka Fischer hat in den vergangenen Monaten wie ein Politiker geredet und gehandelt, nicht wie ein Militärexperte. Den Bündnisgrünen fehlt es nicht an Sozialexperten, aber ein eigenständiges Profil in der Gesellschaftspolitik ist nicht zu erkennen. Auf dem Weg in diese Richtung werden manche Wähler zurückbleiben und zur PDS wandern.

Eine linkstraditonalistische Partei schadet den Grünen auf Dauer nur, wenn sie selbst diese Rolle besetzen. Die nächsten Monate und Jahre werden darüber entscheiden, ob die Bündnisgrünen die politische Fußnote einer Generation bleiben oder ob ihnen gelingt, was sie für den Rest der Welt wollen: eine nachhaltige Entwicklung.

Die rot-grüne Regierung wird sich entweder zu echten Reformen aufraffen, oder sie wird für die Berliner Republik eine Erfahrung zu neuem Leben erwecken, die aus der Bonner Republik wohl vertraut ist: Die Deutschen wollen, auch so kann man den spektakulären Erfolg der CDU und vor allem der CSU deuten, am liebsten bürgerlich-konservativ regiert werden, mit einer starken und ideologisch sauberen SPD in der Opposition und einem möglichst verläßlichen Korrektiv in der Regierung, das ab und zu die Fenster aufmacht, damit es drinnen nicht zu muffig wird. Eine politische Idylle. Eine Hoffnung auch, daß die kleine heile Welt noch eine kleine Weile hält ... Doch zum Glück sind die Zeiten nicht nach einem politischen Biedermeier. Wer auch immer regiert. Warnfried Dettling

Wollen die Deutschen, was sie kennen: eine konservative Regierung?

Die Frage, ob Schröder ein brauchbares Ziel hat, ist noch immer offen