Das letzte Manöver in Mutlangen

Wo einst Pershing-II-Raketen stationiert waren, soll nun ein Wohnpark mit gepflegten Reihenhäusern angelegt werden. An die Friedensdemonstrationen will man sich im schwäbischen Mutlangen lieber nicht mehr erinnern  ■   Von Carsten Otte

Abrißbirnen rollen über die Mutlanger Heide. Zerbrochene Rohre liegen auf dem Gelände. Die Fenster des Toilettenhäuschens mit der Nummer 8007 sind eingeschlagen. Vor dem Klo surren Fliegen. Am Eingangspfosten steht noch geschrieben: „Tor zu!“ Dabei sind die Barrieren längst entfernt. In den achtziger Jahren probten hier amerikanische Streitkräfte den Atomangriff.

Im Jahr 1983, nach Zustimmung des Bundestages zum Nato-Doppelbeschluß, wurden die ersten Mittelstreckenraketen, fein säuberlich getrennt in atomare Sprengköpfe und Triebwerke, nach Mutlangen in die Ostalb transportiert. Alle paar Monate stellten die Amerikaner ihre Pershing-II-Raketen auf, die Spitzen der Geschosse gen Osten gerichtet. Am Jahrestag des Atombombenabwurfes auf Hiroshima konnten die Dorfbewohner das makabre Schauspiel von ihren Terrassen aus beobachten.

Volker Nick, Anti-Atom-Demonstrant, erinnert sich noch genau an die Zeit, als die Proteste in Mutlangen begannen. Daran, wie die Prominenten kamen: Böll, Biermann, Jens, Kelly und Lafontaine blockierten die Zufahrt zum Militärgelände. Daran, wie sich immer wieder Blockaden manifestierten: Musikerblockade, Ärzteblockade, Karnevalsblockade, Seniorenblockade. Sprachlos waren die amerikanischen Soldaten, als die wackeren Alten skandierten: „Wir Senioren werden stören, bis die Politiker auf uns hören.“ Die Bonner CDU-Regierung versuchte sich ebenfalls am politischen Schüttelreim: „Die demonstrieren, wir regieren.“

Die Einsatzkräfte vor Ort hatten weniger Humor. Sie nahmen Tausende Demonstranten fest, sie führten die Theologen Dorothee Sölle und Helmut Gollwitzer und den Zukunftsforscher Robert Jungk wie Schwerverbrecher vom Feld. Die Richter des Amtsgerichts in Schwäbisch Gmünd kannten keine Gnade und verurteilten im Fließbandverfahren über 2.000 Blockierer, meist wegen Nötigung.

Auch Volker Nick wurde immer wieder verdonnert, zu insgesamt über 1.000 Tagessätzen. Einmal mußte er eine Geldbuße von 20 Mark zahlen, weil er seinen Mitstreitern Kartoffelsuppe gebracht hatte. Juristen waren über Urteilssprüche dieser Art empört – im Januar 1987 blockierten sie dann selbst den Stützpunkt. Und die Richter aus Gmünd straften ihre Kollegen ab.

In diesen Tagen werden die von Flugbenzin und Motoröl verseuchten Flächen der Anlage saniert. Auch der Zwinger des Raketen-Depots wird entfernt. Wo einst beißwütige Köter kläfften, wakkeln heute Schafe. Nachts stehen die Tiere in einem der beiden Bunker, in denen damals Raketen lagerten. Im Schutzraum nebenan probte nach Abzug der Amerikaner im Sommer 1991 noch die Rockband „Black Abyss“. An der Eisentür des Bunkers ist zu lesen: „Keep out“.

„Alles, was hier steht, kommt weg“, sagt der Mitarbeiter einer Abbruchfirma. Was nicht stimmt. Die Bunker will die Gemeinde Mutlangen erhalten und darin Streusalz und technisches Gerät unterbringen. Die Baracke einer Software-Firma, die Anfang der 90er Jahre noch die russischen Abrüstungsinspektoren beherbergte, ist für die Bagger und Planierfahrzeuge bis zum Jahr 2001 tabu.

Dann erst beginnen die Bauarbeiten für einen „Wohnpark mit Reihenhäusern gehobener Qualität“. 350 Bauplätze auf 56 Hektar, das bringt Geld in die Kasse der 6.000-Seelen-Gemeinde.

Mutlangens Bürgermeister Peter Seyfried (CDU) präsentiert gerne den Bebauungsplan. Als er vor 13 Jahren die Amtsgeschäfte übernahm, konnte er sich nicht vorstellen, daß in Mutlangen jemals über etwas anderes als Atombomben diskutiert werden würde. „Wir sind schon froh, daß die Amerikaner abgezogen sind. Das war eine große Belastung, nicht nur wegen der vielen Demonstranten und der Auseinandersetzungen mit der Polizei.“ Die Militär-Transporter seien durch Mutlangen gebrettert und hätten sich an keine rote Ampel gehalten. „Ich meinte, die durften das. Aber dann haben sie fast jede Leitplanke niedergewalzt.“

Jahrelang mußte die Gemeinde jede Woche ein Unternehmen beauftragen, das die beschädigten Planken reparierte. Der Bürgermeister stöhnt noch heute: „Was für ein Verwaltungsaufwand!“ Vor den Sprengköpfen hat sich Bürgermeister Seyfried nie gefürchtet. „In Mutlangen waren eh nur die Triebwerke der Raketen stationiert, der Rest war Attrappe.“ Behauptet er.

Aufregende Erlebnisse: Des Bürgermeisters Büro war wochenlang zum Fernsehstudio umfunktioniert. Die Weltpresse kam vorbei. „Ich habe interessante Leute kennengelernt.“ Die Journalisten der New York Times und der Prawda seien besonders freundlich gewesen. Mit dem Mann aus Moskau stehe er noch immer in Kontakt. „Der ruft ab und zu an und will wissen, wie es hier aussieht.“

Gut sieht es aus. Endlich kann Friede im schwäbischen Dorf einkehren. Könnte. Aber da sind diese Friedensbewegten.

„Wir bleiben hier. Wir wollen die Leute ärgern, auch den Bürgermeister.“ Volker Nick lacht und wird dann ernst. Da gebe es noch einen Nachbarn, der ihm einst immer ins Gesicht gespuckt habe. Der wechselt jetzt nur noch die Straßenseite, wenn er ihm über den Weg laufe. „Diese ungeheure Feindschaft der Mutlanger gegenüber den Demonstranten war schon erstaunlich“, sagt Volker Nick und erzählt neidvoll von den Leuten im bayerischen Wackersdorf, die so solidarisch mit den WAA-Protestlern gewesen seien.

Mittlerweile hat der 42jährige Demo-Veteran Kinder und schafft mit seinem Fahrradkurierdienst Arbeitsplätze. Dennoch demonstriert er weiter. Gegen Castortransporte und gegen Atomkraftwerke. Jeden Tag rechnet er damit, aufgelaufene Haftstrafen antreten zu müssen. Doch die Exekutive zögert. Erst kürzlich hat ihm die Justiz bescheinigt, eine „im höchsten Maße moralisch integre Persönlichkeit“ zu sein. Da hatte er wieder einmal Ärger wegen einer seiner Proteste.

Fragt man Demonstrant Volker Nick, was er von dem Plan halte, auf der Mutlanger Heide einen gutbürgerlichen Wohnpark zu errichten, winkt er ab: „Das schlechte Gewissen plagte die Leute in der Region doch jahrelang. Jetzt haben die das Bedürfnis, alles so schnell wie möglich zu vergessen.“ Er hätte die Anlage nicht angerührt. Er hätte den Stacheldraht, die Wachtürme und die Bunker einfach verwildern lassen. Das Schöner-Wohnen-Projekt des Bürgermeisters wird außerdem nur noch von Schülern eines Gymnasiums kritisiert. Die haben sich jüngst in der Lokalzeitung darüber beschwert, daß auf der Mutlanger Heide noch nicht einmal eine Gedenktafel aufgestellt werden soll.

Dafür will der Verein „Friedens- und Begegnungsstätte Mutlangen“ in der einstigen „Pressehütte“ ein Museum einrichten. Ganz in der Nähe des Raketen-Standorts wünscht sich der friedensbewegte Vereinsvorsitzende Franz Blessing, daß der „zivile Ungehorsam gegen die atomare Bedrohung“ dokumentiert wird. Dorfoberhaupt Seyfried wird ob dieser Pläne spitz: „Also man kann nicht sagen, daß wir nur darauf gewartet haben, daß da endlich ein Museum errichtet wird. Es gibt schließlich noch nicht mal ein richtiges Konzept.“

Das Unbehagen des CDUlers hat etwas mit der „Pressehütte“ zu tun. Immerhin war die das logistische Zentrum der Protestaktionen, im Garten nebenan lagerten die Demonstranten. Kein schöner Anblick für die aufgeräumten Schwaben. „Die sind doch vom Osten bezahlt“, pöbelten aufgebrachte Mutlanger. Und als das DDR-Fernsehen in der „Pressehütte“ filmte, war der Beweis erbracht: Da sind kommunistische Umstürzler am Werk!

Weil von der „Pressehütte“, einer ehemaligen Vogelzucht-Scheune, der Zufahrtsweg zum Depot gut einsehbar war, weil die Atomgegner jede Bewegung rund um den Stützpunkt schriftlich festhielten, waren sie bald besser informiert als die Politiker.

„Das waren irre Zeiten. Da rollten die Raketenwagen die Straße entlang“, sagt Franz Blessing. An den Schulen, am Gemeindesaal und am Schwimmbad vorbei, das heute „Mutlantis“ heißt. „Tja, Mutlangen hätte wirklich untergehen können“, meint der dörfliche Friedenswahrer.

Während der Prominentenblokkade lief Petra Kelly im militärgrünen Dreß und mit Stahlhelm auf dem Kopf übers Feld und erzählte vergnügt jedem Reporter, für welche antimilitaristische Frauengruppe sie gerade unterwegs sei. Man protestierte zwar gegen Atombomben und haderte mit der Polizei, es herrschte aber gute Stimmung auf der Mutlanger Heide. Die Ordnungskräfte etwa konnten das mühevoll aufgebaute Zeltdorf der Blockierer wegen eines Verstoßes gegen die deutsche Campingplatz-Verordnung räumen, solch miesepetrige Anweisungen aber forderte nur den Improvisationswillen der Widerständigen heraus.

Nach dem Weggang der Amerikaner verstaubte der Protest. Geblieben ist dröges, lokalpolitisches Gezänk. „Mir gefällt diese Normalität“, sagt Bürgermeister Seyfried. Und statt dem schwäbischen Muff zu entfliehen, machen es sich jetzt auch die letzten Friedensbewegten gemütlich. Aller Obrigkeit zum Trotz soll und muß der einstige Schandfleck „Pressehütte“ zum Museum aufgewertet werden: ein neuer Gasbrennwertkessel ist im Keller installiert, Schlafräume sind im Dachgeschoß eingerichtet, Fotos von den Demos hängen schon an den Wänden. Hier läßt es sich überleben, über das nukleare Weltraumrüsten philosophieren und hin und wieder der großen Gefechte in dem kleinen Schwabendorf gedenken.