„Nachts ist es kälter als draußen“

■ Für Rudolf Dreßler ist die Wahlniederlage der SPD kein Betriebsunfall. Bei der Ursachenforschung mag er seinem Kanzler überhaupt nicht folgen

taz: Hängt das schlechte Ergebnis der SPD bei der Europawahl mit dem neuen Kurs zusammen, den Bundeskanzler Schröder zusammen mit dem britischen Premier Blair umrissen hat?

Rudolf Dreßler: Nein, es ist die Folge der unsäglichen Diskussion über angebliche Rentenkürzungen und darüber, was sonst noch alles im Haushalt gestrichen werden soll. Es wäre besser gewesen, die Regierung hätte vor zwei Monaten ein schlüssiges Konzept für den Haushalt 2000 auf den Tisch gelegt. Wenn es ein sinnvolles Konzept unter dem Stichwort „Innovation und soziale Gerechtigkeit“ gewesen wäre, hätte es uns Stimmen gebracht.

Bei der Wahl hat die SPD auch Stammwähler verloren. Was bedeutet das für die Zukunft der Partei?

Ja, das war kein Betriebsunfall. Betriebsräte und Gewerkschafter haben sich abgewendet. Sie wieder an die SPD zu binden, das wird nur über Inhalte gehen.

Deutet das Schröder/Blair-Papier nicht in die andere Richtung?

Wenn sich herausstellt, was ich befürchte, daß die Identifikation weiter verlorengeht, dann werden die Wahlergebnisse in Zukunft nicht besser werden.

Was vermuten Sie hinter dem neuen Kurs, den der Kanzler einschlagen will?

Der Kanzler allein kann keinen neuen Kurs für die SPD festlegen, den muß die ganze Partei beschließen. Schröder hat ein Papier vorgelegt, über das wir nun diskutieren werden. Die SPD muß identitätsstiftende Botschaften haben. Ich halte es für eine verhängnisvolle Fehlentwicklung, daß sich das Schröder/Blair-Papier von diesen Botschaften löst. An einigen Stellen steht es in deutlichem Widerspruch zum SPD-Programm.

Gibt es in der SPD eine Mehrheit für den Kurswechsel, den Schröder und Blair umreißen?

Ich denke nicht. Ich hoffe nicht.

Welche Stellen kritisieren Sie an dem Papier?

Es heißt da: „Letztlich wurde die Bedeutung von eigener Anstrengung und Verantwortung ignoriert und nicht belohnt.“ Die deutsche Wirklichkeit sieht doch ganz anders aus. Diese These trifft möglicherweise auf die britische Gesellschaft zu. Noch ein Beispiel: „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muß reformiert werden.“ Der Satz unterstellt, daß die SPD es in den vergangenen Jahrzehnten versäumt hätte, das Sozialsystem so zu reformieren, daß es die Fähigkeit, Arbeit zu finden, fördert. Das ist doch einfach nicht richtig.

Was halten Sie von der Idee, „Menschen, die Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen, auf ihre Fähigkeit zu überprüfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen“?

Das ist auch so ein nebulöser Satz. Erwerbsunfähigkeit wird vom Arzt festgestellt. Wer soll das dann überprüfen? Und wie?

Wie interpretieren Sie den Satz „Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“?

Das macht genausowenig Sinn wie „nachts ist es kälter als draußen“. Möglicherweise heißt es, daß der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe in ein karitatives System umgewandelt werden soll.

Welche Rolle weist das Papier den Gewerkschaften zu?

Der Satz „Wir wollen, daß die Gewerkschaften in der modernen Welt verankert bleiben“ ist sehr unglücklich gewählt. Er würdigt unser Gewerkschaftssystem, um das uns die ganze Welt beneidet, in keiner Weise. Kein Wunder, daß sich Gewerkschafter vor den Kopf gestoßen fühlen.

Der Kanzler sagt, er will einen Anstoß zur Modernisierung geben. Ist das nicht notwendig?

Das bedeutet doch, daß unsere Gesellschaft unmodern ist. Das bedeutet auch, daß ich Mitglied einer unmodernen Partei bin. Diesen Eindruck habe ich nicht.

Interview: Tina Stadlmayer