Anzug ist Programm

■  Menschen sind Viren im System: „Matrix“ von Andy und Larry Wachowski ist der bildgewaltigste SF-Film der neunziger Jahre

Die Geschichte wiederholt sich tatsächlich: Als Ridley Scott vor siebzehn Jahren die Zukunft als Neo-Film-noir zeigte und künstliche Menschen, die menschlicher waren als die Originale, maulte die Kritik über den effektvollen, vermeintlich gefühlskalten Streifen, während Spielbergs tränendrüsiger „E. T.“ in Kinos, Kaufhäusern und Kinderzimmern regierte. Heute muß sich „Matrix“ als durchkalkuliertes Action-Spektakel schelten lassen, dessen eigentliche Stars anonyme Computergrafikbastler und Effekttechniker seien. Die leidige Star-Wars-„Episode 1“ belegt inzwischen Filmhitparaden, Titelseiten und Spielwarenabteilungen.

„Blade Runner“ wurde 1982 die Innovations- und Symbolkraft aberkannt, weil niemand dem „Werbefilmer“ Scott dermaßen viel Hintersinn und Inspiration zugestehen wollte. Ähnlich könnte es „Matrix“ ergehen. Doch offensichtlich sind auch verachtete Handwerker und andere Erfüllungsgehilfen des Mainstream-Kinos in der Lage, geniale Filme zu machen.

Und es ist genial, wie „Matrix“ die 90er Jahre auf den Punkt bringt. Da sind die Einflüsse aus dem Action-Kino made in Hongkong, mit seinen unglaublichen, durchchoreographierten Blei-Balletten; da sind die eigenwilligen Tempi-Wechsel des japanischen Animationsfilms; die harten MTV-Schnitte und die Hyperrealität des Techno. Und da ist der Computer – die Anonymität des Internets, die Chat-Room-Maskeraden und die künstliche, virtuelle Realität aus dem Rechner.

„Matrix“ beginnt als Action-Film: Eine junge Frau (Carrie-Ann Moss) schlägt und schießt sich mit einer Gruppe anonymer Anzugträger, bleibt dabei sekundenlang in der Luft stehen, springt horizontal durch Wände und über Straßenschluchten, bevor sie sich in einer Telefonzelle in Luft auflöst. Eine Sinnestäuschung? Eine Inszenierung? Thomas Anderson (Reeves), den Programmierer, Bastler und Hacker mit dem Alias-Namen „Neo“, plagen gleichzeitig Alpträume, in denen er immer wieder auf das Wort „Matrix“ stößt. Überarbeitung? Unterbewußtsein?

Schnell führt der Film diese Stränge zusammen, bringt erst die junge Kriegerin Trinity zu dem Computerfreak und den wiederum zum ominösen Morpheus (Laurence Fishburne) und schließlich die kühlen, in seltsamem Singsang redenden Anzugträger zu Anderson/Neo. Dann folgt ein Verhör, bei dem Freud wie Kafka Pate gestanden haben: Neo, der nicht weiß, was die „Men in Black“ von ihm wollen, wächst der Mund zu, als hätte es dort nie eine Körperöffnung gegeben. Die Autoritätspersonen führen ihm mit einem unappetitlichen Gerät eine Sonde in den Nabel. Cronenberg, dessen Fixierungen auf fleischige Stöpsel, widernatürliche Körperöffnungen und drogige Bewußtseinsveränderungen zuletzt altbacken peinlich wirkten, war in seinem gesamten letzten Film nicht so treffsicher und verstörend.

Und wie in „eXistenZ“ oder Faßbinders grandioser, offenbar verlorengegangener „Welt am Draht“ geht es auch in „Matrix“ um künstliche beziehungsweise tatsächliche Realität. Alles, was wir wie Neo für Wirklichkeit halten, ist doch nur eine ungemein komplexe Simulation, erklärt Morpheus, kreiert von denkenden Maschinen, die längst die Macht übernommen haben. Die Menschheit ist ruhiggestellt, die Simulation bewachen die als Anzugträger auftauchenden Programme. Die wenigen wirklich freien Menschen, die Widerstand leisten, sind für die Maschinen nicht mehr als Viren.

Fast alles findet hier nur im Kopf statt, in der simulierten Welt lassen sich die Gesetze der Physik dehnen und verbiegen; Lehrstoff kann von der Diskette via Interface-Stöpsel direkt in den Menschen geladen werden. Im System braucht dabei niemand zu sterben, solange sich die Widerständler rechtzeitig am richtigen Ort und am richtigen virtuellen Telefonhörer einfinden, um sich wieder in die Realität herunterladen zu lassen. Eine etwas wacklige dramaturgische Wendung, die erwartungsgemäß zum Finale gebraucht wird, um den Puls des Publikums zu beschleunigen.

Das machen Andy und Larry Wachowski in „Matrix“ oft und gern, lassen mehr Munition pro Filmminute verschießen als John Woo in seiner ganzen Karriere und benutzen genüßlich die „Flow Mo“ genannte Aufnahmetechnik, die mit einer Filmkamera und 119 Fotoapparaten Bilder jenseits der Grenze des Vorstellbaren zeigt.

Der etwas diffuse Werbeslogan „Glaube das Unglaubliche“ erklärt sich in gewalttätigen Action-Sequenzen, die alte, ausgelaugte Szenarien – die Schießerei auf dem Hochhaus, der gesprungene Martial-arts-Kick – zum pakkenden „Eyecandy“ machen.

Symbolhaftigkeit und moderne Erzählweisen konnte man in der letzten Zeit in einigen mehr oder weniger phantastischen Filmen beobachten: „Dark City“, „Blade“, „Gattaca“, „Cube“ oder auch „Pi“ benutzen das SF-Genre einfallsreich. Bei allem Feuerwerk und Bilderrausch, jeder visuellen Detailarbeit und hübsch verstörenden Ästhetik, geht es bei „Matrix“ doch um mehr. Die Zukunftsvisionen und -ängste der 90er schwingen in jedem Bild mit: Nicht der eine verwirrte Computer „HAL 9000“ ist bedrohlich, nicht eine Handvoll Androiden auf der Suche nach dem Schöpfer, vielleicht nicht einmal die Technik im allgemeinen.

Nein, wirklich beunruhigend ist die Industriegesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts: Simulationen, Kopien, Imitate sind manchmal reizvoller als Originale. Wenn das Opium fürs Volk nur clever genug angerührt wird und sich leicht schlucken läßt, braucht man vielleicht wirklich keine Widerstände zu befürchten.

„Ignorance is bliss!“, erklärt einer von Morpheus' Leuten, der zu den Maschinen überläuft.

Thomas Klein

„Matrix“, Buch/Regie: Andy und Larry Wachowski, mit Keanu Reeves, Lawrence Fishburne, Carrie-Anne Moss, USA 1998, 136 Min.