Besser den nächsten Flug nehmen

„Das Urteil“ im Thalia Theater: ein starkes Stück, ein weiser Autor, eine schwache Regie und zwei hoffnungslos überforderte Schauspieler  ■ Von Gisela Sonnenburg

Die Bühne ist ein einziges gleißendes, beißendes Neonblau, das die Seligkeit des Azur simuliert. Ein Monitor blinkt im „Departure“-Rhythmus, die Sessel sind schwarz und ledern, die Minibar ist ausgepackt, und über allem schwebt unausgesprochen das Wort „Design“. Wir sehen: die VIP-Lounge eines Flughafens. Wir hören sie auch: Vom Band plätschert Unterhaltungssound. Wir fühlen sie sogar, denn wir warten.

So stilecht (Bühnenbild: Werner Hutterli) beginnt im Thalia Theater die Bühnenuraufführung von Paul Hengges Stück Das Urteil, die ein relativer Erfolg wurde. Relativ, weil die Premiere am Dienstag und nicht, wie im Haus der Muse üblich, am Wochenende stattfand, also nicht ausverkauft war. Zudem zog es viele zur Hammoniale-Eröffnung am selben Abend. Relativ auch deshalb, weil Stück und Thema zwar stark, aber anspruchsvoll sind. Und dennoch war die Premiere ein Erfolg über alle Maßen, denn die beiden – in schwacher Regie jämmerlich routiniert schmierenden – Hauptdarsteller wurden von keinem einzigen Buhruf bestraft.

Mag sein, sie ahnten, daß sie von ihrem Regisseur Michael Wallner aufs falsche Geleis gelegt wurden: In das Kriminalstück mit politischer Grundierung sollten sie den Boulevardton, die schwingende Leichtigkeit und den raschen Wechsel hineintragen. So etwas muß schiefgehen.

Zumal der Autor bekennt, „hemmungsloser Moralist“ zu sein: „Gerechtigkeit können wir nur selber üben und nicht von anderen verlangen. Moral ist nicht, was wir denken, sondern was wir tun.“ Er hat so recht. Paul Hengge, Jahrgang 1930, ist jüdischer Österreicher, verfügt über Billy-Wilder-Charme und hat, wie Wilder, die Verfolgungen des Nazi-Regime überlebt, mit falscher Identität, als angebliches Kind seiner Großmutter.

Das Thema von Schuld und Gerechtigkeit, Mord und Überleben und Lebensrettung, vom Holocaust und seinen Folgen begleitet sein Lebenswerk. Berühmt wurde er als Drehbuchautor der Filme Hanussen und Hitlerjunge Salomon. In seinem Urteil, das als Fernsehfilm letztes Jahr den Grimme-Preis erhielt, wird der ältliche Jude Siegfried Rabinovicz, der Zeuge eines Mordes war, in der vermaledeiten VIP-Lounge arg aufs Kreuz gelegt – und kommt zur Einsicht, dieses verdient zu haben. Michael Altmann muß den tragikomischen Part im Thalia als paranoiden, versoffenen Volltrottel spielen.

Sein Antipode, der den mutmaßlichen Mörder reinwäscht, weil der ihm nach dem Krieg half und die Augen über Hitlers Verbrechen öffnete, ist mit Christoph Bantzer gleich ganz fehlbesetzt. Wo er ag-gressiv sein müßte, spielt er sanft, wirkt kindisch dort, wo tödliche Ignoranz angesagt wäre. Dabei versprach der Regisseur Faustisches, sogar Mephistophelisches. Doch es reiht sich Finte an Finte, bleibt bei einem Gespinst aus verpuffenden Spannungstreibern. Kein Moment zwischen den Akteuren stimmt.

Als Rabinovicz beispielsweise beim Stichwort „Führer“ nervös wird, fällt ihm zwar sein unter mysteriösen Umständen ergattertes Lieblingsbuch, eine besondere Ausgabe der jüdischen Haggada, aus den Händen. Doch sein Duell-Duett-Partner nimmt das kaum zur Kenntnis. Die galligen Sarkasmen, die Hengge ins Drama einstreut, werden präsentiert wie Klein-Erna-Witze: „Es soll auch gute Menschen geben“, sagt der eine. „Ist Ihnen schon mal einer begegnet?“ antwortet der andere.

Daß Hengge die Männer Feindfreundschaft schließen läßt, daß sie den Mordfall erst sachlich, dann emotional diskutieren, daß sich peu à peu herausstellt, daß beide allerbest befangen sind, daß sie sich gegenseitig ins dialogische Messer rennen und einander jagen, verkommt in der lauen Inszenesetzung zu pseudopsychologischer Konversation. Wahrscheinlich hatte Wallner, der von der Verfilmung mit Klaus Löwitsch und Mathias Habicht begeistert ist, diese als Vorbild im Kopf. Den Mut, den Figuren und Worten neuen Sinn zu verleihen, fand er nicht.

Als Rabinovicz sich am Ende, fast verklärt, einer ganz anderen Schuld besinnt, hat man bereits nur noch eines im Sinn: Möglichst bald den Abflug zu machen und Paul Hengge zu lesen. Das Urteil gibt es nämlich auch als Roman, erschienen im dtv. Dort läßt sich die verzwickt-vertrackte Situation, die symbolisch für unsere gespaltene Gesellschaft steht, ausloten.