Hauen und Stechen nur aus Frust

Jeder vierte Schüler ein Opfer – oder auch ein Täter: Europaweit größte Studie zur Jugendgewalt in Hamburg vorgestellt  ■ Von Judith Weber

Die Wut wuchs langsam. Anfangs, nachdem er in Hamburg angekommen war, sortierte Haydin nur sein neues, deutsches Leben. Die Sprache, die Schule, die Abende mit den türkischen Kumpels im Jugendzentrum – alles lief anders als in der Türkei. Offener irgendwie, cooler. Bis es auf der Realschule nicht klappte. Bis Haydins Vater seinen Job verlor und das Wissen, daß nicht alle die gleichen Chancen haben, sich nicht mehr ignorieren ließ. Da gedieh der Frust. Zu Hause prügelte der Vater; Haydin wehrte sich auf der Straße.

Logisch, findet Kriminologe Christian Pfeiffer. Mißhandlungen und Schläge in der Familie sowie soziale Benachteiligung sind die wichtigsten Gründe für Jugendgewalt, haben er und sein Kollege Peter Wetzels vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen bei einer repräsentativen Untersuchung herausgefunden. Im Auftrag der Hamburger Schulbehörde befragten sie 3600 NeuntkläßlerInnen in der Hansestadt über ihre Erfahrungen mit Gewalt. Andere Städte griffen die Idee auf, so daß die Studie mittlerweile die größte ist, die es in Europa je zu diesem Thema gab.

Für Hamburg widerlegt der Abschlußbericht vor allem das Vorurteil, die Jugendlichen seien hier krimineller als andernorts. Zwar liegen die Gewaltraten meist über dem Durchschnitt, aber „die anderen befragten Städte waren auch kleiner“, so Pfeiffer. „Wenn wir die Untersuchung in Berlin machen würden, wären die Zahlen noch höher, da bin ich sicher.“

In der Hansestadt, so die Studie, hat jeder vierte Schüler in den vergangenen zwei Jahren eine Gewalttat begangen. Ebenso viele Jugendliche sind überfallen, erpreßt oder verprügelt worden. Damit ihnen das nicht noch mal passiert, haben rund elf Prozent der Jugendlichen oft ein Messer oder einen Schlagring dabei. Hamburgs SchülerInnen sind somit stärker bewaffnet als die in Stuttgart, wo die Studie ebenfalls durchgeführt wurde. Hier besaßen nur 6,6 Prozent Stech- oder Schlagwerkzeuge.

Auffallend viele junge TäterInnen sind AusländerInnen. Jeder dritte von ihnen gab bei der Befragung an, Gewalt ausgeübt zu haben; bei den Deutschen bekannte sich nur jeder fünfte dazu. Für Pfeiffer ist das nicht überraschend. Nichtdeutsche seien eben häufiger von Armut oder Benachteiligung betroffen – besonders in Hamburg und im Rest des Nordens, wo „die Winner-Loser-Kultur aufgrund der schlechteren sozialen Ausgangslage stärker ausgeprägt ist als im Süden Deutschlands“.

Die Orte, an denen sich Jugendliche sicher fühlen, sind im Stadtgebiet rar gesät. Ungefährlich erscheinen ihnen Straßen und Plätze in den Walddörfern sowie in den Vier- und Marschlanden. In Wilhelmsburg und Harburg ist die Angst vor Gewalt besonders hoch.

Ausländischen Familien in diesen und anderen sozial gebeutelten Stadtteilen will Jugendsenatorin Rosemarie Raab (SPD) nun gezielt Unterstützung anbieten. „Wir müssen unsere bisherigen Hilfesysteme überprüfen und uns fragen, ob wir die Menschen damit überhaupt erreichen“, sagte Raab gestern.

Auch Hamburgs Jugendzentren müssen sich unangenehme Fragen anhören. Schließlich lernen sich laut der Studie gut 40 Prozent der gewalttätigen Jugendcliquen in solchen Einrichtungen kennen. „Wir werden genau gucken: Was passiert in den Jugendzentren?“ kündigte Raab Konsequenzen an.