Blut, Urin und Tränen

Die Tour de France startet am 3. Juli. Wann endet sie – vorzeitig oder erst in Paris? Ein Vorbericht    ■ von Jürgen Francke

Für einen Laien klingt es wie Selbstvergewaltigung. Ein sogenannter Hämatokritwert von 52 Prozent erscheint, als müsse der menschliche Körper kollabieren. Der letztjährige Tour-Sieger Marco Pantani hatte vor der abschließenden Etappe des diesjährigen Giro d'Italia, der schwersten übrigens, außerordentlich viele feste Betandteile im Blut. Das Überschreiten der 50-Prozent-Marke gilt nicht unbedingt als Dopingbeweis. Aber es deutet daraufhin, daß entweder das ausdauerfördernde Mittel Erythropoietin (EPO) im Spiel ist – oder aber Substanzen, die genau dieses EPO im Sportlerkörper verbergen sollen.

Wie erinnern uns: Das eiweißabbauende Peptid EPO spielte bei der Tour de France im vergangenen Jahr eine gewichtige Rolle. Mit dem Festina-Team ging's los, „Chouchou“ Richard Virenqe und seine Mogelpartner Zülle, Meier und Dufaux mußten absteigen und durften sich das Rennen vor dem Fernseher anschauen. Nun, kurz vor dem Start der Tour-Ausgabe 1999 am 3. Juli in Le Puy De Fou, stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Viele Fahrer weigern sich, die demütigenden Prozeduren der Dopingpolizisten noch einmal über sich ergehen zu lassen. 1998 hatten manche Fahrer nach der Etappe ungeduscht, ohne Nahrung und in Handschellen ihre Blutprobe abgeben müssen. Was dürfen wir also von der diesjährigen Tour de France erwarten? Das weiß nicht einmal der Direktor der großen Runde, Jean-Marie Leblanc. „Wenn nötig, laden wir halt anstatt der üblichen 20 Teams lediglich 15 oder 16 ein“, hatte er zu Protokoll gegeben. Was heißt da schon „nötig“, „machbar“ scheint das bessere Wort zu sein.

Pantani hatte bereits vor dem Giro erklärt, bei der Tour nicht teilnehmen zu wollen. Will er jetzt doch mitfahren, sozusagen als Reha-Fall? Darf er es? Die französischen Hoffnungen, Virenque und Jalabert, haben dagegen schon definitiv abgewinkt, der Italiener Bartoli ist schwer verletzt, und hinter Jan Ullrich steht ein riesiges Fragezeichen. Sein kläglicher Abgang bei der Tour de Suisse ist wohl nicht nur allein mit Knieproblemen zu erklären. Und wer an Bugno, Luc Leblanc oder Bruyneel denkt: Diese bekannten Namen fahren nicht mehr. Wir werden also auf alle Fälle eine abgespeckte Tour de France erleben. Die Chance für Wasserträger? Prognose: Unbekanntere Fahrradsportler werden Schlagzeilen machen

Die Strecke ist in diesem Jahr 3.600 Kilometer lang, die in 20 Etappen geographisch gesehen gegen die Uhrzeigerrichtung von der Bretagne über Nordfrankreich, die Alpen, das Zentralmassiv und die Pyrenäen bis nach Paris führt. Die sechs anspruchsvollsten Bergetappen mit den Schlagern am Col de Galibier (2.645 Meter) L'Alpe d'Huez, dem Wahnsinnsanstieg zum Col de la Croix de Chaubouret oder dem Col de Tourmalet müssen alle bereits recht früh bewältigt werden. So muß der jeweilige Träger des Gelben Trikots auf die Ausgeglichenheit seiner Mannschaft vertrauen, damit sie ihn sicher nach Hause zieht. Außerdem sollte der potentielle Tour-Sieger ein guter Zeitfahrer sein. Beide Individualrennen gegen die Uhr sind weit über 50 Kilometer lang.

Natürlich werden wir auch in diesem Jahr auf einige klangvolle Namen nicht verzichten müssen – so sie denn teilnehmen. „La Française des Jeux“ tritt vermutlich mit Moncassin, Stuart O'Grady, Cédric Vasseur und Jens Voigt an. Kein schlechtes Team. „TVM“ bietet Blijlevens, Ivanow und Outschakow auf.

„Once“, das spanische Blindenlotterie-Team, überlegt noch. Falls sie mitmachen, dürften sie Olano und Luttenberger vertrauen. Bei den Belgiern von „Lotto“ sollten Jacky Durand, Thierry Laurent und der schnelle Andrej Tchmil zu beachten sein. Beim Team Telekom hängt alles von Jan Ullrich ab. Sollte er wider Erwarten überhaupt an den Start gehen, wäre er dieses Mal nur ein Mitroller.

Bleibt ein Geheimfavorit, den wahrscheinlich nur die wenigsten auf der Liste haben. Szenario Nummer eins: Die Tour dauert nur zwei oder drei Etappen, weil die Dopingjäger das ganze Spektakel einfach in die umliegenden Intensivstationen und Gefängniszellen verlagern. Dann wäre der „Saeco Cannondale“-Mann Mario Cipollini, im Vorjahr Frühaussteiger mit hochgradigem Tränendrang, erste Wahl als Abbruchsieger. Szenario Nummer zwei: Cipollini hält wider Erwarten durch und heult nicht (immerhin ist er beim Giro durchgefahren und hat sogar Etappen über 200 Kilometer bewältigt). Er gewinnt eine Tageswertung zu Beginn und lutscht ab dann die Hinterräder der Ex-Festina-Leute Armin Meier und Lautent Dufaux ab. Falls die überhaupt ohne Drogen die richtige Strekkenführung erkennen.