Zustimmend zersetzt

Springfield ist immer und überall: In der Zeichentrickserie „Die Simpsons“ kommt die US-Gesellschaft endgültiger bei sich selber an, als es ihr lieb sein dürfte  ■   Von Jörg Magenau

Springfield ist ein glücklicher Ort. Der optimistische Name erfreut sich in den USA so großer Beliebtheit, daß dort gleich 19 Städte Springfield heißen. Die zwanzigste oder die erste – je nachdem, ob man mit dem Fernsehen zu zählen beginnt oder damit aufhört – ist das Springfield der Simpsons, ein konzentriertes Instant-Amerika im Zeichenformat, das seit seiner Erfindung 1987 mal am Meer und mal am Rand der Berge liegt, mal großstädtisch mit eigener Einkaufsstraße, Highways, jüdischem Viertel, Industrieruinen und düsterem Slum ausgestattet ist, mal eher provinziell übersichtlich mit Stadtpark, schneeweißer Cityhall und kilometerweit peniblen Vororteinfamilienhaussiedlungen erscheint. Je nach Bedarf, je nach narrativer Notwendigkeit der Episode: Springfield ist überall, aber immer sehr amerikanisch.

Das Springfield der Simpsons ist ein bißchen wirklicher als die Wirklichkeit, wie alle Konzentrate. Es hat alles, was eine Gesellschaft ausmacht: ein verrottetes Atomkraftwerk und eine Schule, eine Kirche und eine Bar für die Trostsuchenden, ein Fernsehstudio, den Kwik-E-Markt und ein Polizeirevier – und natürlich die Familie Simpson im popbunten Eigenheim nebst Gartengrill und frömmelnder Nachbarsfamilie Flanders als Geisel Gottes: Okely-dokely-do.

Matt Groening, der Erfinder der Simpsons, wollte nach eigener Auskunft „ein Universum schaffen, in dem alle Mist bauen, aber aufeinander angewiesen sind, um zu überleben; wo man ein tolles Leben haben kann, auch wenn man nur der Zweitbeste ist, oder, in Homers Fall, der Letztbeste“. Homer Simpson ist die fette Verkörperung der Utopie, daß man mit verfressenem Egoismus, bornierter Dummheit und sabbernder Faulheit doch irgendwie durchkommt – mal schicksalhaft glücklich, mal verschlagen raffiniert. Selbst ein häßlicher Spießbürger wie er hat das Zeug dazu, jederzeit zum Helden zu werden. Wie tröstlich: Vielleicht sind die Simpsons schon deshalb die erfolgreichste Zeichentrickserie aller Zeiten.

Man muß die Simpsons allein für den Variantenreichtum und ihr filigranes Gesellschaftspersonal lieben, das sich im Verlauf von mehr als zweihundert Folgen immer weiter ausdifferenziert und verästelt hat. Keine der unzähligen Figuren geht eindimensional in ihrer Funktion auf. Niemand ist bloß der platte Vertreter einer gesellschaftlichen Institution, und noch die unbedeutendste Nebenfigur erhält ihre eigene Geschichte, ihren Charakter, ihre Widersprüche. Selbst der grundböse Kapitalist und eigentliche Beherrscher der Stadt, Montgomery Burns, ist nicht einfach nur sadistisch und profitgierig, sondern auch eine tragische, bemitleidenswerte Figur. Crusty der Clown, grinsegesichtiger Star aller Kinder und Magnat der vielfältigen Crusty-Industrie, die vom Burger bis zum Spielzeug den ästhetisch-lukullischen Sektor Springfields prägt, heißt eigentlich Herschel Krustowski und ist im Grunde ein eher trauriger Mensch, weil er einst von seinem Vater, einem Rabbi, verstoßen wurde. Oder Mrs. Krubabble, Barts Lehrerin! Niemand raucht Zigaretten so lustvoll wie sie. Allen Frust über ihr trauriges Los in der Schule und über ihre Einsamkeit stößt sie mit dem Rauch aus und damit alles, was an ihrem Leben mißlingt: Mrs. Krubabble, eine Heldin des Alltags. Zwar gibt es keinen streng chronologischen Fortgang und keine Akkumulation von Erfahrung. Die Figuren bleiben immer im selben Alter und lernen auch nichts dazu – sieht man einmal von der schlauen Lisa ab.

Homer etwa ist zwar am 5. 10. 1955 in North Carolina geboren. Doch er bleibt immer 35 Jahre alt, Marge ist ewig 34, Bart 10, Lisa 8 und die sprachlos schnullernukkelnde Maggie anderthalb. Trotzdem „vergeht“ die Zeit, gibt es Bezüge zu früheren Folgen und – vor allem in den zahlreichen Tag- und nächtlichen Alpträumen von Homer und Bart – Ausblicke in die Zukunft. Doch alle Schichten münden friedlich in eine umfassende Gleichzeitigkeit, die sich immer auf Höhe der Gegenwart befindet: ein durchaus produktives Erzählmodell.

Zugleich entsteht ein komplexes System von Querverweisen, Filmzitaten, selbstgeschaffenen und importierten Mythen, ohne die jeder gesellschaftliche Alltag nur ein Abziehbild bliebe. Das Schöne an den Simpsons ist, daß sie die Mythen, auf denen die Gesellschaft gründet, zugleich bestätigen und zerstören, daß sie sie feiern und sich darüber lustig machen. So werden sie kenntlich: Die Simpsons demonstrieren die postmoderne Variante von Kritik als Affirmation und zeigen, wie zersetzend Zustimmung sein kann.

Der zentrale, jederzeit bekräftigte und pausenlos derangierte Mythos ist „The american way of life“. In einem Land, in dem Homer Simpson Sicherheitsinspektor eines Atomkraftwerks werden konnte, kann zweifellos jeder alles werden. Aber will man in so einem Land leben? Die Simpsons demonstrieren, daß man auch mit einer korrupten, strunzdummen Polizei, mit sexbesessenen Politikern, idiotischen Medien, einer gemeingefährlichen Industrie, ungesundem Essen und einem indischen Lebensmittelhändler, der Verfallsdaten fälscht, aufs trefflichste glücklich sein kann. So kaputt der produktive Sektor, so verbraucht die Träume von einem besseren Leben, so abgeschmackt die Konsumenten: Das ist der Kapitalismus, und siehe, er ist schön.

Der wirkungsvollste Mythos, den die Simpsons zelebrieren, ist selbstverständlich die Familie und damit auch die Liebe. Daß man Homer dauerhaft lieben könnte, wie die treue, moralische Marge das nahezu unerschütterlich tut, ist nur schwer vorstellbar. Und doch: Als Zuschauer der Serie liebt man ihn ja auch und kennt ihn ganz gut: Jeder ist ein bißchen Homer. Trotz allen Streits und aller Probleme, die die Simpsons durchzustehen haben, steht am Ende jeder Folge die Versöhnung und Bekräftigung des familiären Zusammenhalts. Das ist eine Parodie auf amerikanische Soaps und TV-Massenserien, zugleich aber auch sehr ernsthaft – eine Ambivalenz, die sich mustergültig in einem Umarmungs- und Versöhnungsdialog ausdrückt: Marge: „Ich bin eine wahrhaft glückliche Frau.“ Homer: „Und ich bin ein wunderbarer Mann.“

Als Lehrsatz gilt mit Friedrich Engels: Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Wahr ist dieser Satz allerdings nur, solange die traditionelle Rollenaufteilung (Frau in der Küche, Mann auf dem Sofa) nicht angetastet wird, der Fernsehapparat eingeschaltet und genügend Duff-Bier im Kühlschrank ist. Schon der Vorspann der „Simpsons“ macht eindeutig klar, was die Familie zusammenhält: Aus allen Himmelsrichtungen eilen Homer, Marge, Bart, Lisa und Maggie herbei, um sich auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat zu versammeln. Und Maggie entscheidet sich in einer Episode, vor die Wahl gestellt, ob sie Bruder Bart oder Schwester Lisa mehr liebe, schlau für den Fernseher und umarmt ihn zärtlich. Kein Zweifel: Das Gerät strahlt menschliche Wärme aus und beinhaltet die Höhepunkte des alltäglichen Daseins. Mit Crusty, dem Clown, dem unerschütterlichen Nachrichtenmann Kent Brockman, mit der extrem brutalen Zeichentrickserie Itchy und Scratchi – und mit dem abgehalfterten Star Troy McLure, der sich bei jedem Auftritt selbst in Erinnerung bringen muß, liefern die Simpsons zu ihrem Universum gleich noch das zugehörige Fernsehprogramm nebst Werbung, Erkennungsmelodien und allem, was dazugehört. (Troy McLure wird in zukünftigen Folgen übrigens fehlen. Sein Sprecher, der Schauspieler und Komiker Phil Hartman, kam im letzten Jahr ums Leben: Er wurde von seiner Frau erschossen.)

Wie labil das System Familie jederzeit ist, kann man in einer Halloween-Gruselepisode mit dem Titel „Das Shining“ beobachten. Im deutschen Fernsehen war sie bisher noch nicht zu sehen, sie ist jetzt aber auf einer neuen, der vierten Simpsons-Videoedition („Die Simpsons – Extra scharf“) enthalten. Die Simpsons reisen zu einem verlassenen Hotel in den Bergen, wo Mr. Burns sie als Hausmeisterfamilie angestellt hat. Aus Geiz, Sadismus und aus arbeitsstrategischen Gründen läßt Burns alle Biervorräte entfernen und das Fernsehen abschalten. Homer verfällt daraufhin in einen Jack-Nicholson-haften Wahnsinn und verfolgt die Familie programmgemäß mit der Axt: Shining eben, das Muster liegt vor und muß nur nachgespielt werden. Doch im Unterschied zum Original geht es hier gut aus, weil Homer rechtzeitig auf einen funktionierenden Fernseher stößt und dadurch wieder in somnambule Friedlichkeit verfällt. So siegt am Ende die Familie, mehr noch aber die mediale Hypnose.

Auch eine andere, hierzulande noch ungesendete Halloween-Episode hat mit Medienkonsum zu tun: Weil Homer einen riesigen Werbe-Donut geklaut hat, werden die gigantischen Reklamefiguren, die überall am Straßenrand stehen, mit King-Kong-Schreien lebendig und machen sich auf, Springfield zu zerstören, Häuser und Menschen zu zertrampeln. Die Simpsons stehen eng aneinandergedrängt inmitten der Zerstörung, und Marge spricht den denkwürdigen Satz: „Diese Monster zerstören alles, und alles was wir lieb haben. Ihr Kinder solltet Jakken anziehen.“ Wegen solcher Sätze muß man dann wieder ein Jahr lang Simpsons gucken. Besiegt werden die Monster schließlich durch den altbewährten Mißachtungstrick. Denn so ist das mit Werbung: Wenn man nicht hinsieht, fällt sie tot um. So einfach ist Medienkritik.

Der Andrang der Wirklichkeit ist gewaltig. Aber umgekehrt drängt es die Simpsons auch mächtig in die wirkliche Wirklichkeit und den Zeichentrickfilm über sich hinaus. In „Homer (hoch drei)“ – ebenfalls auf dem neuen Video – verirrt sich Homer in die dritte Dimension, die für Zeichentrickfiguren gänzlich unbekannt ist. Am Ende landet er unter richtigen Menschen, auf einer Straße irgendwo in L. A und verschwindet in einem Erotikshop.

Auch das Haus der Simpsons ist längst in der dreidimensionalen Wirklichkeit angelangt: Es ist 204 Quadratmeter groß, besitzt vier Schlafzimmer und steht, wie auf der Simpsons-Homepage bei Pro7 nachzulesen ist, in Henderson, Nevada, kurz vor Las Vegas. Die Pepsi-Cola Company hatte einen Wettbewerb gestartet, bei dem man dieses Haus gewinnen konnte. Die 63jährige Barbara Howard aus Richmond, Kentucky, bekam am 10. 12. 1997 die Schlüssel für das 120.000-Dollar-Haus überreicht. Da wird sich bestimmt auch noch ein wirklicher Homer finden.

„Die Simpsons – Extra scharf“. Videoedition. 20th Century Fox Home Entertainment, 88 Minuten, 19,95 DM