Schlagloch
: Kanzler Schröder und König Lear

■ Von Mathias Greffrath

„Kohl sind wir los. Jetzt müssen wir nur noch den Schröder loswerden.“ SPD-MdB nach der Kanzlerwahl im Oktober 1998

Kultur ist prekär und gefährdet. Was in hundert Jahren aufgebaut wurde, kann in wenigen Jahren verwahrlosen und zerbröseln. Am Ende reichen ein paar Monate und ein paar Menschen, um den Verfall zu besiegeln.

An dieser Stelle steht die SPD jetzt. War das nicht erst vor zwei Jahren, daß Klaus Zwickel eine behutsame Verallgemeinerung des VW-Modells forderte: als Mittel gegen Arbeitslosigkeit und als Gewöhnung an die neue Reichtumsgleichung „Zeit statt Geld“? Daß Lafontaine ihm zurief: „Klaus, meine Unterstützung hast du!“? Ist es länger her als bis zum letzten Wahlkampf, daß SPDler die 630-Mark-Jobs wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse überführen wollten, um den Zerfall des Sozialsystems zu verhindern?

Und nun ist alles abgerutscht. In einem Papier fordern die sozialdemokratischen Wissenschaftler Streeck und Heinze die neue Ungleichheit geradezu herbei: „Es gibt keinen Grund, warum qualifizierte Berufsarbeit, Flächentarif, Kündigungsschutz usw. nicht weiterhin den industriellen Kernsektor prägen sollten – auch wenn dieser immer kleiner werden wird.“ In den hochqualifizierten Bereichen der Exportindustrien könne alles beim alten bleiben. Aber „Dienstleistungen brauchen ein anderes Arbeitsregime: andere Arbeitszeiten, andere Entlohnungsformen, andere Formen der sozialen Sicherung.“

Die beiden Kanzlerberater fordern „ein Überdenken von Gerechtigkeitsvorstellungen, die aus der Vollbeschäftigungswirtschaft der Nachkriegszeit stammen“. Im Klartext: Der Sozialstaat mit seinem Gleichheitsgebot wird dem kernfernen Teil der Arbeitenden gekündigt.

Das Schröder/Blair-Papier läßt, trotz seiner salvatorischen Klauseln, nur eine klare Richtung erkennen: Liberalisierung des Welthandels, Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, Steuersenkung für alle, neue Niedriglohnsektoren, Dienstboten für den Mittelstand. Weiter: Zurücknahme der materiellen Staatsfunktion, Privatisierung von Bildung, Gesundheit, Kultur und sozialer Sicherheit. „Fairneß“ gegenüber den Starken. Mehr Polizei. Darunter dann das „Soziale“: Hilfen für die weniger Leistungsfähigen. Armutsmaßnahmen, „soziale Mindestnormen“ für Familien und Modernisierungsopfer.

Dazu paßt, daß Minister Riester eine Rentenreform vorschlägt, die lebenslangen Jobbern und Arbeitslosen das Bürgerrecht auf Altersalmosen garantiert – unter Änderung des Etiketts, auf daß wenigstens die Schamschwelle sinke. Auf semantischen Katzenpfoten kündigt sich der Systemwechsel an: „Bedarfsdeckung“, „Grundsicherung“, „soziale Mindestnormen“ – das klingt freundlich und kaschiert eine Regression hinter die Idee der modernen Gesellschaft. „Wovon lebt der Mensch?“ hat Michael Ignatieff in einem brillanten Essay zur Hoch-Zeit des Thatcher-Liberalismus gefragt, und er hat auf die Problematik einer am Bedarf, nicht am Gleichheitspostulat orientierten Armutspolitik hingewiesen, ebenso englisch wie herzerwärmend, mit einer Interpretation des „King Lear“: „O streite nicht, was nötig sei“, sagt dieser, als die garstigen Töchter ihm vorrechnen, daß er ein zu großes Gefolge beanspruche, „der schlechteste Bettler hat bei der größten Not noch Überfluß. Gib der Natur nur das, was nötig ist, so gilt des Menschen Leben wie des Tiers.“ Soll heißen: Die Töchter wollen dem Greis nur geben, was er benötigt; Lear besteht auf dem, was ihm zusteht.

Wer nach dem Nötigen fragt, begibt sich in einer Spirale, hinunter zum Überlebensnötigen, zu dem, was „gerade noch human“ ist (Jan Ross in der Zeit). Was einem zusteht, das ist aber nur politisch, das heißt moralisch und historisch zu bestimmen. Im Feudalismus geschah das nach Rang und Würde, in der Arbeitsgesellschaft kann es nur in der Gleichheit der Chancen bestehen, am „pursuit of happiness“, am durch die Vorarbeit von Generationen erworbenen und am gegenwärtig erarbeiteten „Reichtum der Nation“ teilzunehmen. Die Mechanismen dazu sind erstens Vollbeschäftigungspolitik; zweitens die marktfreien Institutionen, die „Chancengleichheit für ein Leben in Freiheit gewährleisten“: Schulen, Krankenhäuser, Theater, Sportanlagen, Kommunikations- und Verkehrssysteme; und schließlich eine „Wohlfahrtsgesellschaft“, die „die Attraktivität dieser öffentlichen Güter auf das Niveau der privaten bringt und auf Gebieten wie Bildung und Gesundheitsvorsorge das Recht der Reichen auf alternative Formen der Versorgung beschneidet“.

Auch das bringt Konflikte, aber solange unsere Vorstellungen von Menschenwürde mit der Gleichheitsidee einhergehen, ist die sozialdemokratische Welt angewiesen auf Bereiche, in denen Menschen miteinander erfahren: Gesellschaft hat im Zentrum einen Markt, aber sie ist kein Markt.

Die dynamische Kälte, die der Kaschmirkanzler und sein Kanzleichef verströmen, bereitet den Boden für ein pseudokonservatives Rollback. Ebenso zutreffend wie unernst-demagogisch und beleidigt kritisiert die CDU, das Blair-Hombachsche Papier verstoße gegen „die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft“ und klinge „mehr nach Shareholder-value“. Stimmt: eine Politik der Menschlichkeit ohne Gleichheit, eine Reduktion des Wohlfahrtsstaates auf karitative Linderung können die Schäubles rhetorisch besser durchsetzen. Kapitalismus mit Herz – das ist die Sache der Rechten. SPDler sind innerlich immer noch gebunden an Universalismus, die kollektiven Werte der Arbeitsgesellschaft und die Gleichheitsforderungen des Sozialstaates.

Erstaunlich ist also nur, wie wenig die Partei ihrem Abstieg entgegensetzt. In den Ortsvereinen murren sie über den Vorsitzenden, der die Preisschilder seiner Klamotten außen trägt und so gern mit den Bossen pinkeln geht. Aber ein Zutrauen zur Kultur der Tarifverträge, Gesamtschulen, Krankenkassen und Stadttheater haben sie auch nicht mehr. So legt sich Mehltau über die alte Partei. Erst nach 2002 wird sie – vielleicht – über einen wirklich modernen Kapitalismus nachdenken: einen mit mehr Wettbewerb, mehr Risiko, mehr Unsicherheit – und deshalb einen, in dem der öffentliche Wohlstand neu, umfassend – und attraktiv – bestimmt werden muß: Wenn Eltern flexibel sein müssen, wird die Ganztagsschule mit beruflicher Bildung zur demokratischen Notwendigkeit. Wenn ein Sockel an unterqualifizierten Bürgern bleibt, muß an die Stelle vorübergehender ABM-Stillstellung eine neue, dauerhafte Art öffentlicher Beschäftigung treten – das heißt, die Kommunen müssen mehr Geld bekommen.

Wenn im langen Trend die Rationalisierung nicht endet, wird es notwendig, gerade auch attraktive Arbeit neu zu verteilen – und die Menschen darauf vorzubereiten, daß Wachstum von nun an heißt: Wohlstand auf Zeit, auch in den oberen Etagen. In den Ortsvereinen, so hört man, wird über all dieses schon lange geredet – dort, wo die Ideen der Gleichheit und des öffentlichen Glücks immer noch die Festigkeit eines Volksurteils haben.

Gesellschaft hat im Zentrum einen Markt, aber sie ist keinerGesamtschulen, Stadttheater – all das wirkt verstaubt