Präzision im Überfluß

■ Theater am Bau von Teatro de los Sentidos, Five Angry Men und Bambuco

Nicht immer erkennen Mensch und Kunst sich auf den ersten Blick. Manchmal stehen sie sich gegenüber und grinsen bloß schief, oft laufen sie aneinander vorbei. Deswegen hat man Museen und Theater gebaut. Begegnet die Kunst dem Menschen auf der Straße, wundert er sich, hat aber meistens seinen Fotoapparat dabei.

Das Festival Theater der Welt ist seinem Anspruch nach stets Festival für die ganze Stadt. Die Theater vor Ort werden bespielt, neue Spielorte dazuerfunden und öffentliche Plätze kurzfristig in solche verwandelt. In einer Metropole der Gleichzeitigkeiten wie Berlin hat es die Präsenz trotzdem schwer. Frank Düwels „Signalgeber“, zwei australische Open-air-Compagnien und das kolumbianische Teatro de los Sentidos, die ihre Arbeiten bis zum 4. Juli täglich präsentieren, sollen sie unterstützen: Auf der größten Baustelle Europas konstruieren Bambuco mit „Arch“ einen weiteren Bogen, machen Five Angry Men noch mehr Krach, und das Teatro de los Sentidos besteht im Spreespeicher auf einem Theater für die Sinne.

In ihren besten Momenten gelingt den Produktionen eine Art von Präzision im Überfluß, die durchaus etwas Subversives hat. Am wenigsten gilt das für die Five Angry Men aus Melbourne. Zwar sehen sie wirklich nicht besonders freundlich aus, wenn sie in schwarzen Mänteln auf den Marlene-Dietrich-Platz radeln. Doch machen sie dort nicht viel mehr, als sich fünf Bungeeseile an einem frei stehenden Gerüst zu greifen, daran zu ziehen und sich mit ihnen in die Luft zu katapultieren. Das sieht hübsch aus, vor allem aber tönt es: Jeder Zug am Seil scheint einen Glockenschlag zu generieren, so daß mit viel Springen ein ganzes Konzert in Gang gesetzt wird. Das klingt allerdings hübscher, als es die Bungeeseile versprechen. Wortkarg, wenig choreographiert und ohne Beziehungen zwischen den Figuren, ist „The Bells“ ein amüsantes sportliches Spektakel. Die Hobbyfotografen aus Berlin und aller Welt waren zutiefst zufrieden.

Eine ganz andere, stille und unbeirrte Arbeit zeigen Bambuco unter der künstlerischen Leitung von Simon Barley. Barley, der seit Mitte der 80er Bühnenbilder entwirft, lernte Anfang der 90er Gerüstbauer in Hongkong und konzentriert sich seitdem auf site-specific Installations aus Bambus. „Arch“, eine 30 Meter hohe Bogenkonstruktion, die Bambuco dieser Tage über der Spree fertigt, wurde zwar nicht spezifisch für das Gelände vor dem Palast der Republik entworfen – es gab bereits ein „Arch“ in Manila –, doch gewinnt die Arbeit im Berliner Kontext neue Bedeutung. Zwischen Kränen und Preßlufthammern wird die leichte Konstruktion aus nichts als Bambus und Bändern, ohne Motor und Elektrik gefertigt von Menschen, die sich auf ihr bewegen, als seien sie Teil des Werks, zum Sinnbild souveräner technischer Eleganz. Nur einer hat dort am Dienstag um 17 Uhr Fotos gemacht, aber das war immerhin Harvey Keitel.

Die Wiederentdeckung des einst Gekannten ist auch Schlüsselpunkt von Enrique Vargas Arbeit. Der studierte Anthropologe, der in den 60ern Agitprop am New Yorker La Mamma Theatre machte, besinnt sich in seiner Soloarbeit „Oxtailsoup“ auf verlorene orale Traditionen und schickt in dem die internationale Festivalwelt bereits erobert habenden Labyrinth „Oraculos“ den Besucher auf eine sinnliche Reise zu sich selbst.

Im verfallenen Spreespeicher an der Warschauer Straße hat er mit seiner Compagnie eine Welt der Räume, Gerüche und Geräusche eingerichtet, die sich jeder barfuß und zumeist im Dunkeln allein erfühlen muß. Faszinierend ist, daß der tarotkartengeleitete Weg auch auf Nichtesoteriker starke Wirkung hat. Welche, ist an den verklärten Gesichtern der theatralisch ins Ich Gereisten schwer abzulesen: Fotos werden hier mit dem inneren Auge gemacht.

Christiane Kühl