Bebrillt brillieren

Von der Stielbrille zur Stilbrille: Hamburgs erstes Brillenmuseum  ■ Von
Gisela Sonnenburg

Endlich gibt es einen veritablen Grund, nach Schnösel-, pardon, Pöseldorf zu fahren: Dort eröffnet das erste Brillenmuseum Norddeutschlands. Führt man sich vor – die fehlsichtigen? – Augen, daß fast jeder zweite Mitteleuropäer auf eine Sehhilfe angewiesen ist und sie mit einer Mischung aus Erleichterung und gekränkter Eitelkeit trägt, dürfte das Interesse am neuen Ort für Alltagskultur nicht eben gering sein.

Alles begann, als der heutige Optiker Karl-Heinz Wilke im Alter von fünfzehn Jahren begann, Brillen zu sammeln. Ob als geistigen Ausgleich zum Fußballspielen oder ersatzweise, sei dahingestellt. Mittlerweile besitzt Wilke knapp tausend Stücke mit Sammlerwert, die er in seinem dem Optikergeschäft angegliederten Privatmuseum herzeigt.

Die Besichtigung beginnt im Dachgeschoß, wo asiatische Augengläser in den Vitrinen warten. Aha, denken gebildete LeserInnen, die alten Chinesen haben also nicht nur das Feuerwerk, sondern auch die Brille erfunden. Doch Pustekuchen, die chinesischen Exponate entstammen der Jahrhundertwende und bezeugen westlichen Einfluß. Sie galten als Statussymbole von Amtsträgern und waren, bar jeder Dioptrie, pure Zieraccessoires: messinglegiert, mit Bügeln zum Falten oder auch als „Fadenbrille“, die Bindfäden zum Fixieren an den Ohren anbietet. Letztere war in China sehr beliebt – anders als in Spanien, das sie speziell für den Asienexport produzierte.

Die Brille an sich tauchte unter der griechischen Edelstein-Bezeichnung „Beryll“ im Spätmittelalter auf. Nicht nur als Lupe oder Fernsichtgerät wird sie genutzt, sondern auch als Schutz vor Sonneneinstrahlung. Gewiefte BrillenträgerInnen wissen, daß sie mit Nasenfahrrad ein zweites Gesicht haben. Und mit der Zweit- und Drittbrille die Möglichkeit, ihre Garderobe zu komplettieren.

Für einen vollendeten Theaterauftritt im 19. Jahrhundert war die Lorgnette unerläßlich. Wilkes Brillenmuseum zeigt Stielbrillen, die so vornehm sind, daß man sie wahrscheinlich nur mit abgespreiztem kleinen Finger halten kann. Aber auch Zwickelbrillen, Scherenbrillen, Fächerbrillen, Kutscherbrillen – mit Seitenschutzglas zum Um-die-Ecke-Sehen – harren der Inspektion. Eine englische Silberbrille mit blauem Glas von 1833 und eine noch fast hundert Jahre ältere französische Stegbrille muten an, als seien sie dem Hirn eines heutigen Modefreaks entsprungen. Die historische Eisenbahnerbrille hingegen besteht aus zwei Sieben und hielt sicher nur teilweise den Schmutz ab.

Wie sich die Brille im Lauf der Jahrhunderte wandelte, was eine „oktagonale Schläfenbrille“ ist, eine „Springlorgnette“ oder ein „Oxford-Kneifer“, und wie Rodenstocks legendärer Schmetterling Rodina von 1959 im Original aussieht, läßt sich bei Wilke bestens ersehen. Das älteste Exponat ist von 1680, das jüngste von heute. Besonders fashion-like sind die poppigen Riesenapparate der 70er: wahre Guckmasken. Brillendesignern fiel halt mehr ein als das Kassengestell: straßbesetzte Ränder, Farbräusche in Plastik, strenge Schwärze, durch die das Wirtschaftswunder rosarot wirken mußte – und sogar ein wortwörtliches Nasenfahrrad. Die Gläser sitzen hier als Räder vor den Linsen, es scheint, als führe die Sehhilfe von rechts nach links über die Visage.

Eröffnung mit historischer Model-Show und Tombola zugunsten des Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg: morgen ab elf Uhr im Brillenmuseum Pöseldorf, Bei St. Johannes 4, Ecke Mittelweg