Unterm Strich

Am Mittwoch abend zeigte Claude Lanzmann im Holocaust Memorial Museum in Washington zum ersten Mal seinen Film „A Visitor from the Living“. Es ist ein 65minütiges Interview mit Maurice Rossel, einem ehemaligen Inspektor des Internationalen Roten Kreuzes, der als 25jähriger das Konzentrationslager Theresienstadt besucht und anschließend berichtet hatte, Theresienstadt sei eine ganz normale Einrichtung für „privilegierte Juden“. Lanzmann hatte das Interview schon 1979 während der Dreharbeiten zu „Shoah“ geführt. Die Nazis hatten das Lager 1944 eigens für den Besuch von Rossel präpariert wie ein Potemkinsches Dorf. Ein „Schönheitsprogramm“ wurde entworfen, eine falsche Synagoge errichtet und die Lagerinsassen zum Theaterspielen gezwungen. Während des Interviews, in dem Lanzmann ihn mit den Fakten über Theresienstadt konfrontiert, sagt Rossel: „Ich würde es [seinen Bericht] wieder unterschreiben.“

Vor 55 Jahren hatte Rossel in seinem Bericht geschrieben: „Meine Aufgabe war es, hinter die Dinge zu sehen.“ Aber Rossel habe sich selbst getäuscht, sagte Lanzmann vor der Aufführung des Films der New York Times: „Das ist das Faszinierende daran – sein Gesicht und was er sich selbst nicht sagen läßt.“ Nachdem der Film vor zwei Jahren fertiggestellt war, hatte Lanzmann den 80jährigen Rossel gebeten, einer öffentlichen Vorführung des Films zuzustimmen. Daraufhin habe Rossel ihm einen „seltsamen Brief, einen schönen Brief“ geschrieben: „Ich erinnere mich nicht mehr an den Mann, der ich damals war. Ich glaube ich bin jetzt weiser oder verrückter, und das ist dasselbe.“ Besonders gut gefiel Lanzmann jedoch, was Rossel noch geschrieben habe: „Seien Sie mitleidig. Lassen Sie mich nicht lächerlich aussehen.“ Aber Rossel sei alles andere als lächerlich.