Absage an die „Bauernsprachen“

■ Die Umsetzung der Charta über Sprachen von Minderheiten in Frankreich scheitert an Chirac. Der will die Verfassung nicht ändern

Paris (taz) – Jacques Chirac hat „non“ gesagt. Klar und deutlich und selbstverständlich auf Hochfranzösisch. Aus Rücksicht auf die „Unteilbarkeit der Republik“ und auf die „nationale Identität“ will der Staatspräsident keine Verfassungsänderung einleiten. Die seit Jahren diskutierte Pariser Unterschrift unter die europäische Charta zum Schutz der Minderheitensprachen ist damit fürs erste beerdigt. Das Korsische, das Okzitanische, das Kreolische, das Katalanische und die anderen 71 Minderheitensprachen im Hoheitsgebiet der französischen Republik bekommen keinen Verfassungsrang. Allerdings zeigt Chirac die Bereitschaft, sie als „kulturelles Erbe der Republik“ zu betrachten.

Der Sprachenstreit, der bei der 210 Jahre zurückliegenden Revolution ausbrach, ist mit dem präsidentialen „non“ am Mittwoch Abend in eine neue Phase gegangen. Chiracs Entscheidung ist eine deutliche Absage an die Pläne des sozialistischen Premierministers Lionel Jospin, mit dem der neogaullistische Staatspräsident ansonsten eine eher freundliche Kohabitation pflegt. Und zugleich ein Angebot an die „Souveränisten“ in allen politischen Lagern, die vehement den Verfassungsartikel 2 verteidigen: „Die Sprache der Republik ist Französisch.“

Die internationale Sprachencharta, die bislang von 17 Mitgliedsländern des Europarates unterzeichnet, aber nur von acht ratifiziert wurde, sieht einen gesetzlichen Schutz für Minderheitensprachen vor. Unter anderem soll ihre Entwicklung staatlich gefördert sowie ihr Gebrauch auch in amtlichen Dokumenten zugelassen werden.

Die rot-rosa-grüne Regierung in Paris hatte im Mai, trotz Widerstandes aus den eigenen Reihen, die Sprachencharta unterschrieben. Präsident Chirac, der vor knapp drei Jahren selbst für diese Unterschrift eingetreten war, hatte angesichts des Murrens in seinen Reihen daraufhin den Verfassungsrat um eine Stellungsnahme dazu gebeten.

Die neun Verfassungsrichter stellten in der vergangenen Woche fest, daß eine Ratifizierung der Charta nur möglich wäre, wenn Frankreich seine Verfassung änderte. Einen derartigen Prozeß einzuleiten ist das Privileg des Staatspräsidenten.

Nach Chiracas „non“ atmeten nicht nur Franzosen im konservativen Lager erleichtert auf. Auch auf der Linken finden sich in Frankreich zahlreiche Verteidiger der Orthodoxie. Auf seiten der Neogaullisten hatte Ex-Innenminister Charles Pasqua, der seit den Europawahlen täglich mehr politischen Zulauf registriert, gegen die Charta opponiert. „Ich spreche Korsisch und Provencalisch“, sagte er gestern, „aber Geburtsakten müssen Französisch bleiben.“

Auf seiten der Linken war Innenminister Jean-Pierre Chevènement der heftigste Kritiker der Charta. Der Ostfranzose, der sogar Ansprachen in der Mundart des Territoire de Belfort hält, warnte vor einer „Balkanisierung Frankreichs“. Seine Position unterstützten auch Anhänger von KPF und anderen linken Organisationen.

Die vehementesten Verteidiger der Sprachcharta sitzen nicht in Paris, wo die Entscheidungen fallen, sondern in fernab gelegenen Regionen. In den vergangenen Monaten organisierten sie Demonstrationen und Petitionen für die Unterschrift. In Paris griffen vor allem Sozialisten, Grüne und konservative Liberale dieseForderungen auf.

Paradoxerweise gehört Frankreich, das sich bis heute ein Staatssekretariat für die Frankophonie, sowie regelmäßige internationale Konferenzen zu deren Weiterentwicklung leistet, zu den Ländern mit der größten linguistischen Vielfalt. Ein großer Teil der citoyens spricht im Privatleben eine Minderheitensprache. Längst sind viele Regionen auch zweisprachig beeschildert, haben zweisprachige Radioprogramme sowie Unterrichtsstunden.

Zugleich ist die kollektive Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung der Minderheitensprachen präsent. Noch in diesem Jahrhundert mußten baskische und bretonische Schulkinder „Eselsohren“ aufsetzen und Strafarbeiten schreiben, wenn sie im Unterricht ihre „Bauernsprache“ benutzten.

Fest verankert ist auch die Erinnerung an die Allianzen zwischen Regionalisten und Antiparisianern einerseits und deutschen Besatzern andererseits. Jene Kollaboration ist bis heute eine schwer lastende Hypothek für die Verteidiger der Minderheitensprachen geblieben. Dorothea Hahn

Ein großer Teil der französischen „citoyens“ spricht im Privatleben eine Minderheitensprache