Im Paradies

Positive Zukunftsvision: Die indische Choreographin Chandralekha mit „Sloka“ auf der Hammoniale  ■ Von Gyde Cold

Das indische Wort Sloka bezeichnet eine tiefgreifende poetische Erfahrung. Genau solch ein Erlebnis schenkte Chandralekha, die Erneuerin des indischen Tanzes, mit ihrer gleichnamigen Choreographie einem ergriffenen Publikum. Mit ihrer diesjährigen Uraufführung ist die 70jährige Choreographin zum zweiten Mal Gast bei der Hammoniale. Chandralekha ließ drei Tänzerinnen, begleitet von einer Musikerin, zusammen mit zwei Tänzern und der Unterstützung von drei Percussionisten die Schönheit und Kraft in den Körpern von Mann und Frau erforschen: In Search Of Feminity.

Die Musikerin webt aus ihrem Gesang und dem Klang des Saiteninstruments Vina ein luftiges Gehäuse, das die Frauen beleben. Sie vollziehen im langsamen Tempo eines tiefen Atemzuges eine Bewegung aus der vorhergehenden. Die konzentrierte Anspannung hat Sogwirkung: Die Betrachter versinken in Kontemplation.

Der Ursprung allen Lebens ist im Öffnen und Schließen der Körper präsent. Dabei verstärkt sich die Intensität von Erotik noch in den Bewegungen der männlichen Tänzer. Die beiden jungen Männer zeigen zärtliche Annäherungen, die – von Achtung und Unschuld getragen – in paradiesischen Gefilden vorstellbar wären, aber nicht auf Erden. Ihr Liebesspiel ist kein Selbstzweck, sondern dient als Liebesbeweis und Ehrerbietung den Frauen. In dieser Überhöhung zeigt sich, daß Chandralekha der Tradition des religiösen Tanzes nicht vollkommen entstiegen ist.

In den 50er und 60er Jahren war sie die berühmteste Solotänzerin des in Südindien gepflegten klassischen Stils Bharatanatyam. Nach zehn Jahren aber verließ sie den traditionellen Pfad und setzte sich zum Ziel, den seit Jahrhunderten übermittelten indischen Tanz zu modernisieren. Sie wollte die – auch in den getanzten Epen festzementierte – Rollenverteilung nicht länger mittragen, in der die Frauen lediglich männlichen Gottheiten huldigen dürfen. Als Tochter der indischen Mittelklasse hatte sie die Möglichkeit, für die Rechte der Frauen zu kämpfen und sieht in der Wirkung des Tanzes ein Mittel, die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Heirat zu bewegen. Denn „soziale Bedingungen und gesellschaftliche Muster verändert man nicht mit Ideologien. Der Körper ist der Punkt, von dem wir ausgehen müssen. Er ist das Zentrum von allem“. In ihrer Choreographie Sloka sucht Chandralekha nach Formen, die dem Wesen von Mann und Frau entsprechen. Sie läßt die Energien der Tänzer so zusammenspielen, daß sie sich im Kontakt zu einem neuen Menschenbild vereinigen.

Sloka ist ein Gegenentwurf – nicht nur für die Bühne, nicht nur für die indische Gesellschaft. Die Choreographie formuliert eine positive Zukunftsvision, die angesichts der sonst im Westen allerorten inszenierten Beziehungsunfähigkeit wie eine religiöse Läuterung wirkt. So könnte es im Paradies gewesen sein.

noch heute und morgen (19.30 Uhr), Kampnagel k6