Eiche zwischen Plastikpalmen

■ Ong Keng Sens „Lear“ schillert zwischen No-Theater und Pekingoper, Tradition und Pop

Um ein gutes Stichwort ist Ong Keng Sen nie verlegen. Wie die Stadt Berlin, die sich gerade neu erfinde, sei auch Asien dabei, aus der Vergangenheit eine neue Gegenwart zu schälen, begann der Regisseur aus Singapur das Pressegespräch. Mit seiner Inszenierung des „Lear“ will er den Multikulturalismus Asiens herausfordern, die alten Traditionen und kulturellen Codes neuen Bedeutungen zu öffnen. So hat er das Drama zwischen dem verstoßenen König und seiner machthungrigen Tochter mit Darstellern aus China, Japan, Singapur, Malaysia und Indonesien besetzt, die nicht nur verschiedene Sprachen reden, sondern vor allem in der Stilisierung des Ausdrucks weit voneinander abweichen. Differenzen produktiv werden zu lassen, war das Ziel – ein Experiment, wie geschaffen für das Festival „Theater der Welt“.

Dabei ließ Ong Keng Sen keine Sekunde daran zweifeln, daß er Multikulti nicht für ein kuscheliges Nebeneinander hält. In Singapur, wo schon jede Ansage in den Zügen viersprachig erfolgt – egal, wie lange das dauert –, verlangt das Ausbalancieren der Unterschiede in jedem Moment Arbeit. Anders aber funktioniert der Alltag nicht.

Skepsis schlug dem jungen Regisseur ob seines programmatischen Ansatzes entgegen. Nicht zuletzt geht es ihm um die Dekonstruktion der Geschlechterrollen: Deshalb schrieb eine japanische Autorin den „King Lear“ von Shakespeare um und rückte die älteste Tochter, die gegen die patriarchale Macht aufbegehrt, in den Mittelpunkt. Gespielt aber wird sie von einem Mann der Pekingoper, Jiang Qihu, der ihr Aufbegehren so schrill, affektiert und mit Lust einzig an der Grausamkeit auf die Bühne bringt, daß nichts mehr in dieser Rebellion berechtigt wirkt.

Alle Sympathie gehört so allein dem alten König, der sich kaum noch auf seine Autorität besinnen kann. Naohiko Umewaka verleiht ihm erdig grollend und in dem langsamen Gestus des No-Theaters eine Präsenz wie die einer alten Eiche zwischen Plastikpalmen: Ratten mögen ihre Wurzeln zerfressen haben, und dennoch ist ihr Sturz großartiger als alles Grün drum herum. So ist die Tradition als das nicht mehr Haltbare und inhaltlich Entleerte dennoch das Ziel der Sehnsucht geblieben.

Am seltsamsten verhält sich ihr gegenüber der Narr, der, im Trainingsanzug und mit Videokamera bewaffnet, über die Bühne joggt. Er filmt den Untergang des alten Mannes und glaubt sich unberührt von dessen Verfall. Er braucht keine Erinnerungen mehr, er hat ja seine Videokamera.

Ein wenig Kitsch und Pop, hatte der Regisseur gemeint, enthalte seine Stilcollage auch als Zitat der Gegenwart Asiens. Was ihm nur eine würzige Prise schien, kommt uns wie vollfette Synthesizersoße vor, die der New-Age-Komponist Mark Chan über die Fragmente der Kulturen gegossen hat. Pekingoper goes Disney.

Katrin Bettina Müller

„Lear“ im Schillertheater, Samstag, 26. Juni, 20 Uhr