Gegenöffentlichkeit hinter Glas

Warten auf die Geschichte: Der Neue Aachener Kunstverein zeigt mit „Gender Trouble/Das Unbehagen der Geschlechter“, wie in den achtziger Jahren Kunst im Kampf gegen Aids mobilisiert werden konnte. Wo sind die Kollektive geblieben?  ■   Von Jochen Becker

„Welche neue Form von Politik zeichnet sich ab, wenn der Diskurs über die feministische Politik nicht länger von der Identität als dem gemeinsamen Grund eingeschränkt wird?“ schrieb Judith Butler in ihrem 1990 veröffentlichten Buch „Gender Trouble“. Die so benannte Ausstellung des Neuen Aachener Kunstvereins läßt eine über zehnjährige Kunstpraxis im Umfeld Aids-aktivistischer, feministischer und schwul-lesbischer Gruppen Revue passieren, bei der Queer Culture als nicht geschlechtsidentitäre Politik im Vordergrund stand. Auf Butler selbst wird allerdings nicht weiter Bezug genommen.

Die von Gisela Theising und Lutz Hieber aus ihrer Sammlung heraus kuratierte Präsentation zeigt rare Plakate, Videos und Dokumente, dazu dezidiert künstlerische Arbeiten im Umfeld des New Yorker Aids-Aktivismus. Schon vor Jahren stellten die SoziologInnen aus Hannover in zwei Ausstellungstourneen zentrale Texte erstmals in deutscher Übersetzung vor, und auch die Aachener Präsentation wird durch hilfreiche Kopien begleitet. Die „Aids-Krise“ ist weniger eine Frage der Medizin denn der Ökonomie, der Sozialpolitik sowie der alltäglichen Homophobie. Auf die sexuelle Befreiung der späten 60er Jahre folgte zu Beginn der 80er Jahre eine Zeit der Selbstzüchtigung. Um dieser durch die Präsidenten Reagan und Bush, Senator Helms oder Kardinal O'Connor geprägten Ära der „Familienwerte“ entgegenzutreten, starteten Aktionsgruppen aus dem New Yorker Kunst-, Werbe- und Medienmilieu vielgestaltige Kampagnen und griffen dabei auf Formen der Bürgerrechtsbewegungen der Sechziger zurück. Das Künstlerkollektiv General Idea widmete 1987 Robert Indianas popartiges Love-Gemälde in Aids um und ließ es in U-Bahnen aushängen. Als Kritik an dieser defensiven Parallelführung von Liebe und Immunschwäche brachten die AktivistInnen von Grand Fury zwei Jahre später Riot-Aufkleber in Umlauf.

Untereinander konkurrierende Gruppierungen wie Act up, Fierce Pussy, DAM (Dyke Action Machine) oder Wham! (Women's Health Coalition) machten einen abenteuerlichen Spagat zwischen Neuer Linker, radikalem Subjektivismus und Selbstmarketing. Erstmals traten die durch Aids Stigmatisierten aus der Opferdarstellung (Schattenriß, verzerrte Stimmen) heraus und erschienen glamourös. Als „feministisches Kontrollorgan“ marschierte die Women's Action Coalition vor Abtreibungskliniken auf, die von militanten Anhängern der „Pro Life“-Bewegung regelmäßig belagert und deren Personal bedroht wurde. WAC reagierte mit Wasserpistolen, bis die bibelfesten Plakate unleserlich verschmierten. Teri Slotkins Fotos dokumentieren wiederum die Lesbian/Gay-Pride-Märsche und Aktionen von WAC, wo bei einer Abtreibungsdemo mit „I'll be the Judge“-Pappen Frauen sich die Entscheidung über ihren Körper nicht nehmen lassen.

Auf Tom McGoverns Dokumentationsfotos sind gutbesuchte Act-up-Veranstaltungen mit Tischen voller T-Shirts und Buttons, in der Wall Street verklebte Poster oder eine Demonstration am Sitz der Staatsregierung zu sehen. Im September 1989 hängten AktivistInnen ein „Verkauft Wellcome“-Transparent in der New Yorker Börse auf und unterbrachen mit Druckluftfanfaren den Parketthandel. Parallel störte ein mit Ohrstöpseln geschützter Demonstrationszug trötend die Mittagspause der Börsianer, die hier bevorzugt draußen abgehalten wird. Vier Tage später reduzierte der Pharmakonzern Wellcome die Preise für AZT um 20 Prozent. Joy Episalla und Carrie Yamaoka verquicken in ihrer aktuellen, zeitungsähnlichen Arbeit „The All-Greed Journal/In a Bull Market“ die Habgier des Börsenmarktes und der Gesundheitsbranche mit dem Stierkampf: Der Börsenbulle jagt den Torero in den blutigen Tod. Noch immer kosten überlebensverheißende Medikamente im Jahr über 30.000 Mark, wovon die Krankenkasse nur einen Bruchteil übernimmt. Zugleich steigen die Umsätze der Versicherungsbranche wie auch der Pharmaindustrie.

„Bürgermeister Ed Koch, du hast Blut an den Händen“ druckte Gran Fury mit roter Farbe auf Demo-Pappen. Logos als Wiedererkennungszeichen einer Kampagne unterstützten die Einordnung des auch nur flüchtig am Fernseher Gesehenen in größere Zusammenhänge. Der Kunstbetrieb wurde nicht als Spendenpool, sondern als Bewußtseinsmaschine, Vertriebsorgan und Verstärker der Straße adressiert. Zugleich schrieb sich Aids-Aktivismus mit grafischen Anleihen bei Bennetton, Marlboro oder Coca-Cola in die Lifestyle-, Klatschspalten- und Consumer-Culture ein.

Die Aachener Ausstellung zeigt neben den eher positiv gestimmten Agitationsmitteln auch ein weites Spektrum künstlerischer Arbeiten, die den alltäglichen Psychoterror aufscheinen lassen. Von Vincent Gagliostro stammen die Aktionsposter gegen ökonomische („Enjoy AZT“ im Layout der Coke-Werbung) oder moralische Profiteure („Separate Church and State“) der Aids-Krise. Das Kollektiv Gran Fury übernahm den Spitznamen der New Yorker Polizeiwagen, doch übersetzt heißt es auch „große Wut“. „Ich langte durch den Fernsehbildschirm und riß sein Gesicht entzwei“, phantasierte der verstorbene Künstler David Wojnarowicz, als ein texanischer Gesundheitsbeamter lieber „unschuldige Personen“ als solche mit Aids behandelt sehen wollte. Während das Leben sich in Helferzellen und Tagen zählt, führen Wojnarowicz' wüste Psychoträume aus Texten und Collagen tief in den therapeutisch-staatlichen Komplex aus Überwachen und Strafen hinein.

„Heather hat zwei Mamies“ nennt sich ein außergewöhnliches Kinderbuch von Leslie Newman und Diana Souza, das heterosexuelle Zwangsmuster üblicher Kinderbücher über den Haufen wirft. Heather ist das Ergebnis einer künstlichen Befruchtung und wächst mit lesbischen Eltern auf. Im Alyson Books Verlag erscheinen diverse Queer-Bücher, die die kindliche Sozialisisationsphase mit role models jenseits der üblichen Heterosexualität versorgen. Doch am Ende stehen Mama Jane und Mama Kate glücklich vor dem Eigenheim in Suburbia, so wie die dominante Mittelschichtsgesellschaft um sie herum auch. Als Persiflage auf Heathers Neue-Mütter-Idylle greift das von Carrie Moyer umgedeutete Baby tief ins Geschlecht ihrer Mamis, während über ihnen die Sonne aufgeht. Moyers „unkorrekte“ Grafiken zwischen libertärer Sexualität und Kindesmißbrauch bringen wahre Monster hervor. In „Custers letzter Schlacht“ ist der Vater mit Pfeilen gepflastert, und das böse Kind freut sich. Andere Zeichnungen zeigen lüsterne Mütter mit lippenstiftverschmierten, an die Brust gedrückten Babys. Provozierende Umkehreffekte erzeugen auch die Arbeiten von Dyke Action Machine: Während ihr Plakat zur Schwulenehe fragt, ob „es sich lohnt, für ein Mixgerät langweilig zu sein“, trägt ihr cooles Poster zum fiktiven Coming-out-Film „Straight to Hell“ das Zensurmerkmal H-G 13: Homosexual Guidance suggested.

Die Exponate liegen in einer Zwischenzeit gebannt, die die Dinge nach der Aktion und doch vor der Musealisierung in der Schwebe läßt. Man sieht die Abnutzungsspuren an den Demo-Pappen, die nun gegen die Wand gelehnt sind. Plakate, vormals neben Konzertpostern an Fassaden gekleistert, harren hinter Glas aus. Die kurzen Jahre der kollektiven Aktionen sind kaum vorüber, ihre am Werbetrend der Zeit orientierte Bildsprache spiegelt nun deren Abstand wider. Wer wollte damals wissen, von wem die Pappen, Plakate, Sticker und Bustafeln stammen? Nun haften den vormals anonymen Gebrauchsgrafiken vermehrt Namen, Identitäten und Werte an: In eckigen Klammern schält sich aus dem Kollektiv DAM das Künstlerinnenduo Carrie Moyer/Sue Schaffner heraus.

Die Ausstellung pocht darauf, daß Aids-Aktivismus mehr war als die roten Schleifen des Totengedenkens. Während das Aktions- zum historischen Quellenmaterial gerinnt, treten insbesondere die traumatischen Collagen stärker hervor. Das Ausbrennen, Reprivatisieren oder Scheitern der vorgestellten Bewegungen, ihre lähmenden Routinen und das Zerbrechen an Kompliziertheiten („Ökonomie und Ethnizität waren die wunden Punkte in unserer Organisation“) bleiben in Aachen abwesend. „Wir wissen, daß es immer noch eine Aids-Krise gibt. Weißt du es auch?“ schließt der Plakataufruf zum KünstlerInnenstreik „Day without Art December 1, 1998“ und markiert die wiedererwachte Paranoia durchschnittlicher US-AmerikanerInnen gegenüber HIV-Positiven. Zehn Jahre zuvor veröffentlichten Gran Fury weitaus kämpferischer „Angesichts von 42.000 Aids-Toten – Kunst ist nicht genug“ auf Bussen, Wänden und in Zeitschriften.

Bis 11. Juli Neuer Aachener Kunstverein. Am 3. Juli sprechen die beiden KuratorInnen sowie Rupert Goldworthy, Anke Kempkes/Juliane Rebentisch und Anton van Dalen.

Neben positiv gestimmten Agitationsmitteln scheint das Spektrum des alltäglichen Psychoterrors auf