■ Nebensachen aus Mexiko
: „Greift zum Stahl und zum Roß“

Für Kriege haben die Mexikaner nicht viel übrig. Zumindest nicht mit anderen Ländern: In fremdes Territorium drangen mexikanische Soldaten nur einmal ein, an ihrer Nordgrenze unter Führung des tollkühnen Revolutionärs Pancho Villa – für die USA bis heute ein traumatisches Erlebnis, weil die wohl einzige Invasion, die die First Nation je erlebt haben dürfte.

Und dennoch: Bei jeder sich bietenden Gelegenheit krakeelt Groß und Klein: „Mexikaner, beim Ruf des Krieges, greift zum Stahl und zum Roß!“ Anfangs meinte ich noch, mich verhört zu haben. „Das vaterländische Banner in Wellen von Blut tränken“? „Geliebtes Vaterland, auf daß der Himmel dir in jedem Sohn einen Soldaten gebäre“? Und das beileibe nicht nur bei Militärparaden, Fußballspielen und Staatsempfängen, sondern auch beim montäglichen Schulbeginn, auf Studentendemos und Guerrilla-Spektakeln – wahlweise mit waagerecht zur Brust gerecktem Unterarm, mit geballter Faust oder den zum Sieges-V gespreizten Fingern. Mit der Zeit begann ich zu verstehen: Die säbelrasselnde Dichtung wird als Entschädigung für die alltägliche Katastrophe zelebriert. Denn trotz Krise und Korruption sind sie im Grunde stolz wie Bolle auf ihr Mexiko und den schönen Zufall, darin geboren zu sein. Dreiviertel aller Mexikaner sogar „sehr stolz“, wie eine jüngst veröffentlichte Umfrage ergab, und 17 Prozent „ein bißchen stolz“, so richtig egal ist es nur ein paar Prozent.

Auch das Wappen auf dem grün-weiß-roten Fahnentuch zeugt vom Glamour vergangener Zeiten: Auf einem Kaktus sitzt ein Adler, der mit einer Schlange kämpft. Etwas von der Erhabenheit dieses Gründungsmythos der Aztekenmetropole Tenochtitlan, auf deren Trümmern der heutige Moloch einst errichtet wurde, hat sich bis in die mexikanische Postmoderne hinübergerettet.

Dabei läßt der Alltag sich dieser Tage denkbar unglamourös an. So wurde vor ein paar Wochen der Fernsehliebling der Nation auf offener Straße in Mafia-Manier umgenietet. Ein Aufschrei ging durch alle Reihen, der etwas kleinlaut verhallte, als durchzusickern begann, daß der gute Mann zu Lebzeiten vermutlich beste Beziehungen zu den heimischen Drogenkartellen unterhielt. Schließlich brachte das heftige Erdbeben vergangene Woche 45 endlose Sekunden lang wieder einmal sämtliche Grundfesten ins Wanken – eine Art Sinnbild für mexikanisches Lebensgefühl. Wo alles schwankt, muß irgendwas stehen bleiben.

Als eine große Tageszeitung kürzlich eine Debatte um die Modernisierung der kriegslüsternen Hymne anzettelte, die nach Ansicht aufgeklärter Philologen längst „überholt“ und durch „friedlichere Botschaften“ zu ersetzen sei, schlug ihnen eine Welle der Empörung entgegen. Ob man nichts Besseres zu tun habe, ereiferten sich Leserbriefschreiber über die „Blödmänner“, „Weichlinge“ und „Ignoranten“, die sich an dem vaterländischen Song vergreifen wollten. Man solle ihre „Hymne bitte schön in Ruhe lassen“, schrieb ein junges Mädchen, da könne man ja gleich das ganze Land umbenennen, meinte ein anderer, und ein gewisser dritter fragte fassungslos: „Habt ihr beim Hören der Hymne etwa nicht schon mal Gänsehaut bekommen oder Tränen in den Augen gehabt?“

Bei allem Lächeln über die nationale Inbrunst meiner Gastgeber, gelegentliche Anflüge von Neid auf deren unverbrüchliche Lust am eigenen Land kann ich nicht verhehlen. Und da sich ein eigener Stolz auf das neue Deutschtum partout nicht einstellen will, treibt dieser Fahnenneid während der Heimatbesuche zuweilen die seltsamsten Blüten: So wird auf dem elterlichen Bötchen flugs ein niedliches Adler-Banner gehißt und durch das Umland geschippert, ohne Gesangseinlage, aber auch ein klein bißchen stolz wie Bolle. Auf die paradoxe Leih-Heimat, die zwar nicht ohne martialische Gesänge, aber immerhin ohne humanitäre Bomben auskommt. Anne Huffschmid