Algerien amnestiert Tausende Islamisten

Die Islamische Heilsfront (FIS) könnte wieder zur politischen Partei werden. Die Vereinigungen der „Opfer des Terrorismus“ und die Minderheit der Berber stellen sich gegen eine Aussöhnung  ■   Aus Madrid Reiner Wandler

Algeriens Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika versteht es, seine Politik medienwirksam zu verkaufen. Am späten Freitag nachmittag nutzte er die erste Auslandsreise seiner Amtszeit, um einen „Gnadenerlaß für Tausende von Islamisten“ am 5. Juli, dem algerischen Unabhängigkeitstag, anzukündigen. Die Teilamnestie sei ein erster Schritt, „um dem Land den Frieden zurückzugeben“, nachdem der bewaffnete Arm der verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS), die Armee des Islamischen Heils (AIS), vor drei Wochen einen endgültigen Gewaltverzicht bekundete.

„Es gibt zwei Sorten von Kriminellen: Diejenigen, die sich eines Blutdelikts oder einer Vergewaltigung schuldig gemacht haben, und die Menschen, die aus Überzeugung den Terroristen als Kontaktstelle gedient, ihnen Unterkunft gewährt oder sie finanziell unterstützt haben“, erklärte Bouteflika. Gnade werde es nur für die zweite Gruppe geben. Nach Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte sitzen zwei Drittel der 30.000 algerischen Häftlinge wegen Delikten in Zusammenhang mit dem Islamismus hinter Gittern.

Bouteflika möchte noch weitergehen. In den nächsten Tagen wird die Regierung dem Parlament ein „Gesetz zur nationalen Aussöhnung“ vorlegen. Es soll die Lage der 5.000 bis 10.000 AIS-Kämpfern klären, die sich unter Bewachung der Armee in den Bergen befinden. Egal wie die Parlamentsabstimmung ausgeht, soll das Gesetz anschließend einer Volksabstimmung unterzogen werden.

„In wenigen Wochen werden wir wieder ganz normal auftreten können“, zeigen sich Kreise um die FIS-Führung zuversichtlich. Seit die AIS vor drei Wochen endgültig auf Gewalt verzichtete, wurde der historische FIS-Führer Abassi Madani aus der Wohnung seiner Mutter, wo er seit Herbst 1997 unter Hausarrest saß, in einen Regierungspalast überführt. Die Nummer zwei, der charismatische Prediger Ali Bendadj, könnte unter denen sein, die am Nationalfeiertag die Haftanstalten verlassen, hoffen die Islamisten.

In den letzten drei Wochen hat sich ein Teil der radikaleren Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) ebenfalls dem Waffenstillstand angeschlossen – nicht immer ganz freiwillig. Die Armee verfrachtete einen Teil der AIS-Kämpfer mit ihren Waffen in die Hochburgen der GIA. Die Furcht vor Auseinandersetzungen mit den AIS-Mudschaheddin, die nach den großen Massakern der GIA in Benthala und Rais im Sommer 1997 immer wieder Seite an Seite mit der Armee Razzien gegen die radikalen Islamisten durchgeführt haben, zeigte Wirkung.

In Algeriens Zivilgesellschaft stößt der von Bouteflika eingeschlagene Weg nicht nur auf Zustimmung. Selbst die Parteien, die wie die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) und die Arbeiterpartei (PT) einen Dialog aller algerischen Kräfte zur Aussöhnung fordern, sehen den Friedensprozeß skeptisch. Sie verlangen, daß Präsident Bouteflika alle Übereinkünfte mit den Islamisten öffentlich macht. Am radikalsten stellen sich die Vereinigungen der Angehörigen der Opfer des Terrorismus und die Partei der Berberminderheit gegen eine Aussöhnung.

Bei einer Großdemonstration anläßlich des 1. Jahrestags der Ermordung des Berbersängers Lounes Matoub in Tizi Ouzou riefen die rund 100.000 Teilnehmer immer wieder: „Kein Vergeben!“ Seit Bouteflika von Aussöhnung redet, versammeln sie sich immer wieder zu Hunderten im Zentrum Algiers. „Wenn die runterkommen, gehen wir in die Berge“, heißt einer ihrer wütenden Rufe.