„Heroin ist doch kein Plutonium“

■ In Berlin diskutierten Wissenschaftler über den Start der medizinischen Heroinverschreibung an Schwerstabhängige

Berlin (taz) – Es war mehr als ein hübscher Jokus. Mit seiner Mahnung, Heroin sei schließlich „kein radioaktives Plutonium“, versuchte der niederländische Arzt Giel van Brussel die hochschießenden Emotionen zu ironisieren. Doch Heroin bleibt ein Mythos, ein schillernder Stoff, angereichert mit Rausch, Kriminalität, Prostitution und Tod – dem Verstand schwer zugänglich.

Dennoch: Zehn Jahre nach dem ersten Vorstoß bahnt sich die Restvernunft eine Gasse. Die Heroinvergabe an Schwerstabhängige wird im nächsten Jahr in mindestens fünf deutschen Städten mit vermutlich 1.000 Therapieplätzen realisiert. Drei Jahre lang soll der Probelauf dauern. Hamburg, Hannover, Frankfurt, Essen und Düsseldorf haben sich für die Beteiligung entschieden. Andere Kommunen wie Köln, Karlsruhe, München, Dortmund, Saarbrücken überlegen noch, ob sie mitmachen. Berlin, die Stadt mit den meisten Junkies, steht seltsam abseits.

Wie der von Rot-Grün in die Spur gesetzte erste deutsche Versuch einer Heroinverschreibung ablaufen wird, diskutierten am Wochenende in Berlin Wissenschaftler aus Europa und Kanada. Die medizinisch kontrollierte Heroinvergabe wird nicht als gleichberechtigtes neues Instrument der Drogenhilfe eingesetzt, sondern als „ultima ratio“, als letzte Möglichkeit, wie der Hamburger Referent Peter Degkwitz feststellte.

Zugelassen sind deshalb nur die Schlimmsten der Schlimmen. Junkies, die aufgenommen werden wollen, müssen schon ein Musterbeispiel der Verelendung bieten, über viele Jahre chronisch abhängig sein, multimorbide, verwahrlost und mit anderen Hilfsprogrammen nicht erreichbar. Daß die Heroinverschreibung vielen Menschen helfen könnte, gar nicht erst diesen Zustand zu erreichen, dies wird zwar von einigen Wissenschaftlern erkannt, aber die politischen Ängste sind zu groß, um die Kriterien aufzuweichen und auch „normale“ Junkies aufzunehmen.

Auch im Ausland macht die Abgabe des Originalstoffs nur einen winzigen Teil der Drogenhilfe aus. In der Schweiz, dem Vorreiter der Verschreibung, wurden von 30.000 Abhängigen bisher nur 1.400 in die Programme aufgenommen. Die Austrocknung von Drogenmafia und Schwarzmarkt bleibt illusorisch. Dennoch: Die Erfolge sind beachtlich. Sie betreffen nicht nur die Resozialisierung der Süchtigen, ihre bessere Gesundheit und geringere Kriminalität. Die Berner Drogenexpertin Margret Rihs-Middel sieht eine „vollkommene Veränderung des gesellschaftlichen Milieus“. Früher seien in den Zeitungen immer nur Spritzbestecke und zerstochene Unterarme abgebildet worden. Jetzt „werden Drogenabhängige als Menschen dargestellt, die mehr sind als ein Spritzenhaltestab“. Seit Beginn der Verschreibung 1992 hat sich in der Schweiz die Zahl der Herointoten auf 209 halbiert.

Als Hindernis für die Beteiligung am deutschen Heroinversuch wird die Kostenfrage diskutiert. Schätzungen von bis zu 100 Millionen Mark für das dreijährige Projekt mit seiner aufwendigen Begleitforschung geistern durch die Landschaft. Doch in den Niederlanden kostet, so van Brussel, jeder Junkie, der in die Heroinvergabe aufgenommen wurde, zwar 35.000 Gulden im Jahr. Ein üblicher Therapieplatz schlägt aber mit 100.000 Gulden zu Buche, ein Platz im Knast kostet 110.000 Gulden. In der Schweiz werden für die Drogen-„Arbeit“ von Polizei und Justiz 500 Millionen Franken jährlich ausgegeben.

Auch Berlin verweigert mit Hinweis auf die Kosten die Teilnahme an dem Pilotprojekt. Senatorin Ingrid Stahmer (SPD) mußte zwar zugeben, daß durch vermiedene Polizei- und Justizkosten, durch gesündere und weniger kriminelle Junkies der Gesellschaft ein finanzieller Nutzen entsteht, aber dies den Leuten beizubringen, das sei „wie eine Qualle an die Wand zu nageln“.

Für Drogenhelfer und Sozialarbeiter wird der Heroinversuch riesige Belastungen bringen. Sie haben es nicht nur mit der schwierigen Klientel der Drogenabhängigen und einem wissenschaftlich überladenen Forschungsprojekt zu tun, sondern auch mit massiven Kontrollbedürfnissen der Gesellschaft. Die Schweizer Erfahrung: Alle wollen mitreden, die Bürokratie sei erdrückend.

Doch gerade die Freundlichkeit der medizinischen Helfer ist eines der Erfolgsgeheimnisse der Heroinverschreibung. Giel van Brussel mit bösem Humor: Die Atmosphäre in den niederländischen Projekten sei so nett, daß man bald auf Heroin verzichten und den Junkies statt dessen ein gutes Fernsehprogramm anbieten könne. Manfred Kriener